Hinterstrangsyndrom
Englisch: posterior cord syndrome, dorsal cord syndrome
Definition
Das Hinterstrangsyndrom ist ein spinales Syndrom, bei dem es durch eine selektive Schädigung der langen Leitungsbahnen des Hinterstranges zu einem Ausfall der epikritischen Sensibilität und Propriozeption kommt. Es wird den Rückenmarksstrangsyndromen zugeordnet.
Epidemiologie
Ein isoliertes Hinterstrangsyndrom wird als eher seltener Befund eingeschätzt.[1][2] Genaue epidemiologische Daten fehlen bisher (2025). Registerstudien von Patienten in Rehabilitationskliniken beziffern den Anteil des Hinterstrangsyndroms an allen Patienten mit Rückenmarksläsionen auf weniger als 1 - 2 %.[1][3]
Ätiologie
Beschriebene Auslöser des Hinterstrangsyndroms sind:[1][3][4][5][6][7][8][9]
- Rückenmarkstumoren (z.B. Gliome) oder extramedulläre Tumorkompression
- demyelinisierende Erkrankungen, z.B. Multiple Sklerose
- Ischämien im Versorgungsgebiet beider Arteriae spinales posteriores, auch als Folge von Hyperextensionsverletzungen
- Myelitis als immunvermittelte Nebenwirkung oder Paraneoplasie
- Epiduralabszess oder -hämatom
- epidurale Serome nach Wirbelsäuleneingriffen
- Spinalkanalstenose
- Tabes dorsalis bei Syphilis
- funikuläre Myelose bei Vitamin-B12-Mangel (typischer ist jedoch ein kombiniertes Hinterstrang- und kortikospinales Syndrom)
- Splanchnikusneurolyse
- epidurale Rückenmarksstimulation
Pathophysiologie
Durch die Ursachen kommt es zu einer Läsion eines oder beider Rückenmarkshinterstränge. Die Hinterstränge enthalten die aufsteigenden Axone des Fasciculus gracilis sowie – im Zervikal- und oberen Thorakalmark – des Fasciculus cuneatus.
Diese Bahnen leiten propriozeptive Informationen sowie Impulse der epikritischen Sensibilität – wie Vibrationsempfinden, präzise Reizlokalisation, qualitative Berührungswahrnehmung und Zwei-Punkt-Diskrimination – aus der ipsilateralen Körperhälfte zu den gleichnamigen Kerngebieten der Medulla oblongata.[10]
Eine Läsion dieser Fasern führt unterhalb des Schädigungsniveaus zu einem Verlust der epikritischen Sensibilität auf derselben Körperseite. Aufgrund des Wegfalls propriozeptiver Informationen, die für die gezielte Bewegungssteuerung erforderlich sind, entwickelt sich zusätzlich eine sensorische Ataxie.
Klinik
Symptome des Hinterstrangsyndromes sind, jeweils ipsilateral und kaudal des Läsionsniveaus:[4][6][10][11]
- Pallanästhesie
- Verlust von feinem Berührungsempfinden und der taktiler Diskriminationsfähigkeit
- fehlendes Empfinden für Gelenkpositionen
- sensorische Ataxie mit unsystematischem Schwindel, Gangbildstörung und Fallneigung, insbesondere bei fehlender visuellen Kompensation (im Dunklen oder bei geschlossenen Augen)
Zusätzlich kann es zu sensiblen Reizerscheinungen wie Parästhesien, Hyperalgesie oder Schmerzen kommen.[4][11]
Diagnostik
Wegweisend sind die neurologische Untersuchung und Bildgebung.
In der klinischen Untersuchung findet sich neben den Sensibilitätsdefiziten vor allem ein Schwanken im Romberg-Versuch als Zeichen der Ataxie.[6] Gang- und Zielbewegungen verschlechtern sich bei Prüfung mit geschlossenen Augen.[4]
Zur Ursachenabklärung erfolgt eine MRT der Wirbelsäule[6] sowie bei Bedarf weitere, zielgerichtete Diagnostik.
Therapie
Die Therapie richtet sich nach der Ursache des Syndroms.
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 McKinley et al., Posterior cord syndrome: Demographics and rehabilitation outcomes, The Journal of Spinal Cord Medicine, 2019.
- ↑ Cochrane et al., Posterior cord syndrome associated with postoperative seroma: The case to perform a complete neurologic exam, The Journal of Spinal Cord Medicine, 2018.
- ↑ 3,0 3,1 McKinley et al., Incidence and Outcomes of Spinal Cord Injury Clinical Syndromes, The Journal of Spinal Cord Medicine, 2007.
- ↑ 4,0 4,1 4,2 4,3 Ende-Henningsen, Spinale Syndrome, eMedpedia - klinische Neurologie, Springer Verlag, 2017. Aufgerufen am 29.05.2025.
- ↑ Secco et al., Posterior cord syndrome associated with immune checkpoint inhibitors for metastatic melanoma, Annales de Dermatologie et de Vénéréologie, 2021.
- ↑ 6,0 6,1 6,2 6,3 Kunam et al., Incomplete Cord Syndromes: Clinical and Imaging Review, RadioGraphics, 2018.
- ↑ Barber et al., Hyperextension-Induced Dorsal Cord Syndrome: Case Presentation, Physical Medicine and Rehabilitation, 2019.
- ↑ Zhang et al., Transient Dorsal Cord Syndrome After Splanchnic Neurolysis: A Case Report, Pain Medicine Case Reports, 2025.
- ↑ Kwon, Posterior Cord Syndrome After Spinal Cord Stimulation Electrode Lead Insertion: A Case Report, Korean Journal of Neurotrauma, 2022.
- ↑ 10,0 10,1 Trepel, Neuroanatomie - Struktur und Funktion, 7. Auflage, Elsevier Verlag, 2017.
- ↑ 11,0 11,1 Ackermann et al., Strangaffektionen. In: Ackermann et al. (Hrsg), Alles fürs Examen, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Thieme Verlag Stuttgart, 2014.