Stretching
Synonyme: Dehnen, Dehnübung, Dehngymnastik
Englisch: stretching
Definition
Stretching bezeichnet eine kontrollierte Längendehnung von Muskeln, Sehnen und Bindegewebe. Ziel ist es u.a., die Beweglichkeit zu verbessern, Verspannungen zu lösen und Krämpfen vorzubeugen. Das Stretching ist Bestandteil vieler therapeutischer, rehabilitativer und sportlicher Programme.
Biomechanik
Der biomechanische Effekt des Dehnens beruht auf den Eigenschaften des Muskel-Sehnen-Komplexes. Ein Skelettmuskel besteht aus vielen Muskelfasern mit kontraktilen Proteinen (Aktin, Myosin) und elastischen Elementen (z.B. Titin) in jedem Sarkomer. Wird der Muskel gedehnt, trennen sich die Aktin- und Myosinfilamente im Sarkomer, während elastische Komponenten die Dehnungsenergie speichern und dämpfen. Insbesondere Titinfilamente sorgen dafür, dass die Filamente nicht unphysiologisch weit auseinandergleiten und nach Entspannung die Ruhelänge des Sarkomers wiederherstellen. Dadurch wirkt die Muskel-Sehnen-Einheit wie eine Feder, die nach kurzer Verformung elastisch zurückschnellt. Entsprechend sind die meisten Effekte des Stretchings eher kurzfristig.
Neurophysiologie
Stretching aktiviert verschiedene sensorische Reflexbögen in der Muskulatur. Die Muskelspindeln detektieren plötzliche Längenänderungen und lösen den klassischen Dehnungsreflex aus: Eine rasche Muskeldehnung führt zu monosynaptischer Erregung der α-Motoneuronen und damit zur kurzzeitigen Kontraktion des gedehnten Muskels. Gleichzeitig wird über Interneurone die Aktivität antagonistisch arbeitender Muskeln gehemmt (reziproke Hemmung). So wird ein extremes Überdehnen des Muskels verhindert.
Im Gegensatz dazu werden Golgi-Sehnenorgane erst bei hoher Zugspannung in Sehnen aktiviert. Sie vermitteln über Ib-Afferenzen vorwiegend eine Inhibition der eigene Motorneuronen (autogene Hemmung). Dadurch kann nach einer Maximalkontraktion oder längerem Zugreiz eine muskuläre Entspannung eintreten.
Indikationen
- Verkürzte Muskulatur (z. B. ischiokrurale Muskulatur bei Büroarbeitern)
- Beweglichkeitsstörungen
- Verbesserung der Körperhaltung
- Postoperative oder posttraumatische Rehabilitation
Kontraindikationen
- Akute Entzündungen im Muskel- oder Gelenkbereich
- Frische Muskel-, Sehnen- oder Bandverletzungen
- Osteoporose mit Frakturgefahr
- Hypermobile Gelenke (z.B. bei Ehlers-Danlos-Syndrom)
Arten
- statisches Stretching: halten der Dehnposition für 15–60 Sekunden
- dynamisches Stretching: kontrollierte Dehnbewegungen
- ballistisches Stretching: schnelle, federnde Bewegungen für maximale Dehnreize
- PNF-Stretching ("propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation"): kombiniert Dehn-, Kontraktions- und Entspannungsphasen; Ziel ist eine reflektorische Entspannung des gedehnten Muskels
Effekte
Die Hauptwirkung von Dehnübungen ist die Steigerung der Beweglichkeit ("Range of Motion", kurz ROM), während Effekte auf Kraft, Schmerzempfinden und Verletzungsprävention je nach Art, Dauer und Zielgruppe variieren:
| Effekt | Kurzfristig (akut) | Langfristig (chronisch) |
|---|---|---|
| Beweglichkeit | Deutliche Steigerung | Moderate bis große Steigerung |
| Muskelkraft/-leistung | leichte Abnahme (v.a. nach statischem Dehnen) | kleine bis moderate Zunahme, v.a. bei Untrainierten und Älteren |
| Muskelsteifigkeit | Reduktion nach Dehnen | Präventive Wirkung auf Steifigkeit |
| Schmerzempfinden | Akute Reduktion der Schmerzempfindlichkeit, unabhängig von Intensität | – |
| Verletzungsprävention | Wissenschaftlich nicht eindeutig belegt | – |
Stretching kann, wenn es nicht korrekt ausgeführt wird, auch zur Schädigung der Muskeln, Sehnen und Gelenke führen.
Quellen
- Weppler und Magnusson, Increasing muscle extensibility: a matter of increasing length or modifying sensation?, Phys Ther, 2010
- Shrier, Does stretching improve performance? A systematic and critical review of the literature, Clin J Sport Med, 2004
- Behm et al., Acute effects of muscle stretching on physical performance, range of motion, and injury incidence in healthy active individuals: a systematic review, Appl Physiol Nutr Metab, 2016
- Magnusson et al., Biomechanical responses to repeated stretches in human hamstring muscle in vivo, Am J Sports Med, 1996
- Chalmers, Re-examination of the possible role of Golgi tendon organ and muscle spindle reflexes in proprioceptive neuromuscular facilitation muscle stretching, Sports Biomech, 2004
- Konrad und Tilp, Increased range of motion after static stretching is not due to changes in muscle and tendon structures, Clin Biomech, 2014
- Avela et al., Altered reflex sensitivity after repeated and prolonged passive muscle stretching, J Appl Physiol, 1999