Hintere Schultergelenkluxation
Synonyme: Posteriore Schultergelenkluxation, hintere Schulterluxation, Luxatio glenohumeralis posterior
Englisch: posterior glenohumeral dislocation, posterior shoulder dislocation
Definition
Bei der hinteren Schultergelenkluxation wird der Humeruskopf nach posterior aus der Gelenkpfanne des Schultergelenks (Glenoid) verschoben. Es handelt sich um die zweithäufigste Form der Schultergelenkluxation.
Epidemiologie
Die hintere Schultergelenkluxation macht 2 bis 4 % aller Schulterluxationen aus. Häufiger findet sich eine hintere Subluxation oder eine posteriore Instabilität ohne akutes Traumaereignis. Das typische Erkrankungsalter beträgt 50 Jahre.
Ätiologie
Eine hintere Schulterluxation kann beispielsweise im Rahmen eines epileptischen Anfalls auftreten. Die posterioren Innenrotatoren (Musculus latissimus dorsi und Musculus teres minor) sind deutlich stärker als die anterioren Außenrotatoren. Bei starker Muskelkontraktion tritt daher eher eine Dislokation nach posterior auf. Bei einer Epilepsie kann auch eine bilaterale Luxation vorkommen.
Weitere Ursachen sind unter anderem:
- schwerer Stromunfall
- Sturz auf die ausgestreckte Hand oder Schlag auf die Vorderseite der Schulter, insbesondere wenn die Schulter sich in Flexion, Adduktion und Innenrotation befindet
- Kontaktsportarten (z.B. American Football, Mixed Martial Arts)
Das Risiko einer posterioren Luxation ist erhöht bei hypoplastischem oder dysplastischem Glenoid. Bei Kindern ist die hintere Luxation selten. Sie tritt z.B. bei geburtsbedingter Paralyse oder angeborener deutlicher Glenoidhypoplasie auf.
Begleitverletzungen
Eine hintere Schultergelenkluxation kann zu verschiedenen Begleitverletzungen führen. Dazu zählen Frakturen, Weichteilverletzungen sowie selten neurovaskuläre Verletzungen.
Frakturen
Eine begleitende knöcherne Delle am anteromedialen Humeruskopf wird in Analogie zur vorderen Luxation als umgekehrte Hill-Sachs-Läsion oder als McLaughlin-Läsion bezeichnet. Sie kommt bei 75 % der hinteren Luxationen vor und ist der entscheidende Prädiktor für die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Luxation. Je nach Prozentsatz der betroffenen Gelenkfläche des Humeruskopdefektes unterscheidet man drei Schweregrade:
- klein: < 20 %
- mittel: 20 bis 40 %
- groß: > 40 %
Bei 30 % der hinteren Luxationen findet sich eine Fraktur des hinteren Glenoidrands, die sogenannte hinteren Bankart-Fraktur. Frakturen des Humerushalses können mit einer Schultergelenkluxation einhergehen. Des Weiteren können Tuberculum-minus-Frakturen auftreten.
Weichteilverletzungen
Folgende Weichteilverletzungen sind mit einer hinteren Schulterluxation assoziiert:
- umgekehrte Bankart-Läsion des Labrum glenoidale
- POLPSA ("posterior labrocapsular periosteal sleeve avulsion")
- Ruptur des hinteren Schenkels des Ligamentum glenohumerale inferius (IGHL):
- Ruptur im mittleren Abschnitt
- PHAGL (posterior humeral avulsion of glenohumeral ligament)
- Ruptur/Zerrung des Musculus teres minor bzw. seiner Sehne
Klinik
Bei der hinteren Schulterluxation ist der Humeruskopf nach posterior unter das Akromion (Luxatio subacromialis), seltener unter die Spina scapulae (Luxatio infraspinata) oder unter das Glenoid (Luxatio subglenoidalis) verlagert. Typische Beschwerden sind Schulterschmerzen und eine Bewegungseinschränkung. Weiterhin können eine fixierte Innenrotation, ein prominenter Processus coracoideus, eine abgeflachte anteriore Schulter sowie eine prominente, abgerundete hintere Schulter auffallen. Hintere Schulterluxationen werden klinisch nicht selten übersehen. Bei einer Blockade über 3 Wochen spricht man von einer chronischen hinteren Luxation.
Diagnostik
Konventionelles Röntgen
In der a.p.-Aufnahme der Schulter zeigt sich das Gelenk inkongruent. Erscheint das Gelenk zu schmal, ist der Humeruskopf "blockiert": Der hintere Glenoidrand ist in der umgekehrten Hill-Sachs-Impaktionsfraktur "aufgespießt". Bei zu weitem Gelenkspalt, ist der Humeruskopf am hinteren Glenoidrand verkeilt. In der a.p.-Projektion findet sich meist nur eine subtile Verschiebung, die initial in 50 % der Fälle übersehen wird. Hilfreich sind folgende Zeichen:
- Trough-Sign: in 75 % der Fälle zeigt sich aufgrund der umgekehrten Hill-Sachs-Impaktionsfraktur eine vertikale lineare Sklerose des medialen Humeruskopfs. Die Skleroselinie entspricht dem impaktierten Knochen entlang des Frakturandes parallel zum Röntgenstrahl.
- Light-Bulb-Sign: Aufgrund der fixierten Innenrotationsstellung befinden sich das Tuberculum minus medial und das Tuberculum majus lateral, sodass der proximale Humerus die Form einer Glühbirne aufweist.
- Rim-Sign: Bei ungefähr zwei Drittel der hinteren Schulterluxationen findet sich eine Verbreiterung des Schultergelenks auf > 6 mm.
- Verlust der normalen halbmondförmigen Überlappung von Humeruskopf und Glenoid durch die laterale Verschiebung des dislozierten Humeruskopfs.
In der Schulteraufnahme nach Grashey überlappt der Humeruskopf den Glenoidrand. Die axiale Schulteraufnahme zeigt einen nach posterior verlagerten Humeruskopf. Diese Projektion ist daher ideal zur Darstellung der hinteren Luxation. Bei einer Blockade "klemmt" der Humeruskopf am hinteren Glenoidrand, d.h. es liegt ein Engaging des hinteren Glenoidrands in der umgekehrten Hill-Sachs-Delle vor. Weiterhin kann eine Bankart-Fraktur des hinteren Glenoidrands dargestellt werden.
Ist die für die axiale Aufnahme notwendige Abduktion des Arms nicht möglich, wird eine Velpeau-Aufnahme oder eine Y-Aufnahme durchgeführt, wobei letztere teilweise nicht mehr empfohlen wird.
Bei einer posterioren Instabilität oder nach Reposition werden a.p.- und axiale Aufnahmen angefertigt, um Frakturen besser zu erkennen.
Computertomographie
Eine Computertomographie (CT) wird insbesondere zur Operationsplanung durchgeführt. Dabei kann die Größe der reversen Hill-Sachs-Läsion quantifiziert sowie eine umgekehrte Bankart-Fraktur diagnostiziert werden.
Nach Reposition dient die CT der Beurteilung von im Röntgenbild nicht eindeutig erkennbaren Frakturen. Bei rezidivierenden Luxationen kann ein Defekt bzw. Knochenverlust am hinteren Glenoidrand auffallen.
Die CT-Arthrographie ist nützlich für die Diagnose von Labrumrissen, insbesondere wenn eine adäquate MRT-Untersuchung nicht möglich ist, z.B. durch zu erwartende Metallartefakte nach vorheriger Operation.
Magnetresonanztomographie
Die Magnetresonanztomographie (MRT) wird nach Reposition durchgeführt. Entscheidend ist die axiale PD-FS-Sequenz. Die hintere Bankart-Läsion betrifft meist das posteriore und nicht das posteroinferiore Labrum. Ein posteriorer Labrumriss wird häufig auch bei Sportlern mit posteriorer Instabilität ohne vorherige Luxation gesehen. Weiterhin dient die MRT der Darstellung von posterioren Bankart-Frakturen, Knochenkontusionen des anteromedialen Humeruskopfs sowie von umgekehrten Hill-Sachs-Impaktionsfrakturen.
Die MR-Arthrographie ist sensitiver für die Diagnostik einer umgekehrten Bankart-Läsion.
Differenzialdiagnosen
- Hypoplastisches bzw. dysplastisches Glenoid: Angeborenes flaches, konvexes oder retrovertiertes hinteres Glenoid mit Hypertrophie des posterioren Labrums. Es geht mit posterioren Labrumläsionen, häufig mit einer posterioren Instabilität sowie einem erhöhten Risiko einer posterioren Schulterluxation einher.
- Multidirektionale Schulterinstabilität: Teilweise familiär bedingte Instabilität ohne vorherige Luxation und ohne posterioren Labrumriss. Gehäuft bei Sportern mit großem Bewegungsausmaß im Schultergelenk (z.B. Schwimmern).
- Bennett-Läsion: Intakter hinterer Glenoidrand. Insbesondere bei Wurfathleten.
- Adhäsive Kapsulitis der Schulter: Klinische Differenzialdiagnose. Oft nach Trauma. Keine umgekehrte Hill-Sachs-Läsion.
Therapie
Bei einer akuten Luxation und einer kleinen Hill-Sachs-Läsion erfolgt eine konservative Therapie. Diese umfasst eine geschlossene Reposition, eine 4 bis 6 Wochen dauernde Ruhigstellung unter adaptierter Mobilisation sowie einen Muskelaufbau mit Kräftigung der Außenrotatoren. Eine Adduktion- und Innenrotationstellung sollte vermieden werden.
Bei chronischer Luxation ist häufig eine offene Reposition notwendig. Bei Instabilität oder rezidivierenden hinteren Schulterluxationen kommt eine operative Therapie in Frage, z.B. ein hinterer Kapselshift. Bei umgekehrten Bankart-Läsionen wird eine Refixierung des Labrums durchgeführt. Bei Hill-Sachs-Läsionen kommen folgende Operationen in Frage:
- kleine Läsion (< 20 %): partieller Transfer der Subskapularissehne in den Defekt
- mittelgroße Läsion (20 bis 40 %): McLaughlin-Operation (Transfer des Tuberculum minus in den Defekt)
- große Läsion (> 40 %): Allograft in den Defekt oder Hemiarthroplastik
Bei großer umgekehrter Bankart-Fraktur ist möglicherweise eine Schraubenosteosynthese notwendig. Große Defekte des posterioren Glenoids bedürfen einer Knochentransplantation.
Literatur
- Jacobs RC et al. Posterior shoulder dislocations, BMJ. 2015;350:h75. Published 2015 Jan 28
- Longo UG et al. Bone loss in patients with posterior gleno-humeral instability: a systematic review, Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 2016;24(2):612-617
- Rouleau DM et al. Acute traumatic posterior shoulder dislocation, J Am Acad Orthop Surg. 2014;22(3):145-152
- Saupe N et al. Acute traumatic posterior shoulder dislocation: MR findings, Radiology. 2008;248(1):185-193
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