Horizontale Blickparese
Synonym: horizontale Blicklähmung
Englisch: horizontal gaze palsy
Definition
Als horizontale Blickparese bezeichnet man eine supranukleäre oder nukleäre Augenbewegungsstörung. Sie ist dadurch charakterisiert, dass die Betroffenen keine horizontalen Blickbewegungen in eine oder beide Richtungen ausführen können.
Terminologie
Die aus einer horizontalen Blickparese resultierende Blickdeviation zur Gegenseite wird als Déviation conjuguée (Herdblick) bezeichnet.[1]
Die Kombination einer horizontalen Blickparese mit einer internukleären Ophthalmoplegie der Gegenseite nennt man Eineinhalb-Syndrom.[1][2][3] Eine horizontale Blickparese durch bilaterale Läsionen der paramedianen pontinen Formatio reticularis (PPRF) und/oder Abduzenskerne ist außerdem Teil des Locked-in-Syndroms.[4]
Epidemiologie
Eine isolierte horizontale Blickparese ist ein seltenes neurologisches Defizit. Genauere epidemiologische Daten liegen derzeit (2025) nicht vor.
Ätiologie
Mögliche Ursachen einer horizontalen Blickparese sind:[1][3][5]
- Hirninfarkte oder -Blutungen, insbesondere des Pons
- Enzephalitiden
- Tumoren
- Multiple Sklerose
- Wernicke-Enzephalopathie
- zentrale pontine Myelinolyse
- Morbus Huntington
- Speichererkrankungen, z.B. Niemann-Pick-Erkrankung (Typ C)
- okulomotorische Apraxie, v.a. kongenitale Form
Pathophysiologie
Willkürliche horizontale Sakkaden werden in den frontalen Augenfeldern generiert. Sie lösen jeweils eine Blickwendung zur kontralateralen Seite aus. Hierfür erregen sie – nach Kreuzung auf die Gegenseite und Verschaltung in den Colliculi superiores – die PPRF.[6][7]
Horizontale Blickfolgebewegungen werden in den Blickzentren des Okzipital- und Parietallappens generiert. Sie steuern nach doppelter Seitenkreuzung und Verschaltung im Vestibulozerebellum die ipsilaterale PPRF an.[2][6]
Die Efferenzen der PPRF stimulieren ihrerseits den ipsilateralen Abduzenzkern. Dieser löst einerseits direkt die Kontraktion des ipsilateralen Musculus rectus lateralis aus, andererseits stimuliert er über Interneurone des Fasciculus longitudinalis medialis den Okulomotorius-Subnukleus für den Musculus rectus medialis der Gegenseite.[6][7]
Horizontale Blickparesen können durch Läsionen aller in diesem Schaltkreis involvierten Neurone zustande kommen:[1][2][5][6][7]
| Läsionsort | resultierende Parese | begleitende Defizite |
|---|---|---|
| frontales Augenfeld | horizontale Blickparese zur Gegenseite, v.a. für Willkürsakkaden | häufig Ausfall benachbarter Cortexanteile, z.B. mit kontralateraler Hemiparese |
| okzipitoparietale Blickzentren | horizontale Blickparese zur ipsilateralen Seite | sakkadierende Blickfolge, häufig Hemianopsie, Ausfall des optokinetischen Reflexes |
| PPRF | horizontale Blickparese zur ipsilateralen Seite; aufgrund der räumlichen Nähe von Hirnstammstrukturen oft beidseitige Parese oder Eineinhalb-Syndrom | oft weitere Hirnstammsymptome |
| Abduzenskern | horizontale Blickparese zur ipsilateralen Seite; aufgrund der räumlichen Nähe von Hirnstammstrukturen oft beidseitige Parese oder Eineinhalb-Syndrom | Ausfall des vestibulookulären Reflexes, oft weitere Hirnstammsymptome und Fazialisparese aufgrund des benachbarten Genu internum nervi facialis |
| Läsionen verbindender Bahnsysteme oder zwischengeschalteter Stationen | je nach Lage der Läsion | je nach Lage der Läsion |
Klinik
Klinisch zeigt sich ein Unvermögen, den Blick horizontal zur betroffenen Seite zu wenden (sowohl Sakkaden als auch Blickfolgebewegungen). Einseitige Paresen führen aufgrund des Überwiegens von Impulsen der noch intakten Strukturen zu einer Blickdeviation zur nicht-paretischen Seite (Déviation conjuguée).[6][7]
Bei kortikal bedingten Paresen kommt es aufgrund teilweiser Faserkreuzung meist relativ rasch zur Rückbildung der Parese und Blickdeviation.[1][6][7] Initial kann dabei bei Blickwendung zur vormals paretischen Seite noch ein Blickfolgenystagmus auftreten.[7] Bei Hirnstammläsionen kann die Parese je nach Ursache auch dauerhaft verbleiben.[7]
Diagnostik
Die Diagnose wird klinisch durch eine neurologische Untersuchung gestellt. Hierbei sollte eine Prüfung des optokinetischen und vestibulookulären Reflexes erfolgen, um die Topologie der Läsion einzugrenzen. Ein Ausfall des optokinetischen Reflexes spricht für eine parietookzipitale Läsion.[7] Der vestibulookuläre Reflex hingegen fällt lediglich bei Läsionen des direkt durch die Vestibulariskerne innervierten Abduzenskerns aus.[6][7] Bei Läsionen von Kortex und PPRF hingegen lässt sich die Parese vestibulär überwinden.[2][3][7]
Die weitere Diagnostik richtet sich nach der vermuteten Ursache. In jedem Fall sollte eine Bildgebung mittels MRT erfolgen.
Therapie
Die Therapie richtet sich nach der auslösenden Ursache.
Leitlinie
- S1-Leitlinie Augenmotilitätsstörung inkl. Nystagmus der DGN im AWMF-Register, Stand 2021.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 Grehl, Reinhardt, Neuberger, Konjugierte Blickparese. In: Grehl, Reinhardt (Hrsg.), Checkliste Neurologie, 7. Auflage, Thieme Verlag Stuttgart, 2021.
- ↑ 2,0 2,1 2,2 2,3 Wiwatwongwana, Lyons, Eye movement control and its disorders. In: Dulac, Lassonde, Sarnat (Hrsg.), Handbook of Clinical Neurology, 3. Auflage, Elsevier Verlag, 2013.
- ↑ 3,0 3,1 3,2 Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V., S1-Leitlinie Augenmotilitätsstörung inkl. Nystagmus im AWMF-Register, Stand 2021.
- ↑ Schnetzer et al., Locked-in syndrome revisited, Therapeutic Advances in Neurological Disorders, 2023.
- ↑ 5,0 5,1 Esser, Lang, Augenbewegungsstörungen. In: Lang und Lang (Hrsg.) Augenheilkunde, 7. Auflage, Thieme Verlag Stuttgart, 2024.
- ↑ 6,0 6,1 6,2 6,3 6,4 6,5 6,6 Trepel, Neuroanatomie: Struktur und Funktion, 7. Auflage, S. 146. Elsevier Verlag, München, 2017.
- ↑ 7,0 7,1 7,2 7,3 7,4 7,5 7,6 7,7 7,8 7,9 Mattle und Fischer, Störungen der Augenmotorik und Pupillenmotorik. In: Mattle und Fischer (Hrsg.), Kurzlehrbuch Neurologie, 5. Auflage, Thieme Verlag Stuttgart, 2021.