Acrylamid
Synonyme: Acrylsäureamid, Ethylencarboxamid, Prop-2-enamid, 2-Propenamid, Propensäureamid
Englisch: acrylamide
Definition
Acrylamid ist ein synthetisches Carbonsäureamid, das als Monomer zur Herstellung von Polyacrylamiden und Farbstoffen verwendet wird. Es kann auch während der Zubereitung von Lebensmitteln, die reich an Kohlenhydraten sind, bei Temperaturen über 120 °C entstehen. Zudem ist Acrylamid im Tabakrauch vorhanden.
Chemie
Acrylamid wird durch Hydrolyse von Acrylnitril hergestellt. Die Summenformel ist C3H5NO. Der chemische Name ist
- Prop-2-enamid (IUPAC)
Die molare Masse beträgt 71,08 g/mol, der Oktanol-Wasser-Koeffizient (logP) -0,7. Die CAS-Nummer lautet 79-06-1. Die Substanz liegt bei Raumtemperatur als farbloses und geruchloses kristallines Pulver vor, das in Wasser sehr leicht löslich ist.
Verwendung
Technisch wird Acrylamid als Monomer zur Herstellung von Polyacrylamiden verwendet, die als Dispersions- und Flockungsmittel bei der Trinkwasseraufbereitung, als Dichtstoffe beim Bau von Dämmen und Tunneln, als Verdickungsmittel in der Papier- und Zellstoffindustrie sowie in der Analytik (Polyacrylamid-Gelelektrophorese) eingesetzt werden.
Entstehung
Endogene Bildung
Bei einer Verzehrsstudie mit Mischköstlern, Veganern und Rohköstlern wurde festgestellt, dass auch bei strikter Rohkost Acrylamid-Addukte im Blut und eine renale Ausscheidung von Acrylamid-Metaboliten nachgewiesen werden können. Dies wurde als Hinweis auf eine endogene Synthese von Acrylamid gewertet. Es wird vermutet, das Acrylamid bei oxidativem Stress im Metabolismus und/oder durch das Mikrobiom des Magen-Darm-Traktes gebildet werden kann.[1]
Lebensmittel
Acrylamid entsteht als Prozesskontaminante beim Erhitzen (Backen, Braten, Frittieren, Rösten über 120 °C) durch die sog. Maillard-Reaktion von Lebensmitteln, die viel Asparagin, Stärke und Zucker (Glukose und Fruktose) enthalten. Es wurden teilweise hohe Konzentrationen (bis in den mg/kg-Bereich) festgestellt:[2]
- Kartoffelerzeugnisse (z.B. Chips, Pommes frites)
- Knäcke- und Toastbrot
- Cornflakes
- Kekse
- Popcorn
- Reiswaffeln
- Kaffeepulver und Kakaoerzeugnisse
Die BfR-MEAL-Studie zur Ernährung in Deutschland lieferte Hinweise, dass auch Gemüsechips, Kartoffelpuffer und Bratkartoffeln vergleichsweise viel Acrylamid enthalten können.[3]
Tabakrauch
Bei einer Querschnittsstudie mit Probanden aus der Allgemeinbevölkerung wurde bei Rauchern eine etwa viermal höhere Konzentration von Acrylamid-Addukten im Blut als bei Nichtrauchern festgestellt.[4]
Wirkmechanismus
Acrylamid wirkt durch eine Hemmung des retrograden axonalen Transports mit zentraler und peripherer Akkumulation von Neurofilamenten neurotoxisch. Dadurch werden in peripheren und zentralen Neuronen Axonopathien ausgelöst, die sich primär als distale axonale Schwellung von Axonen in der Medulla oblongata und im Rückenmark manifestieren und sekundär zur Demyelinisierung der Axone führen. Sie manifestieren sich klinisch als sensomotorische Polyneuropathie.
In tierexperimentellen Untersuchungen wiesen Acrylamid und der Metabolit Glycidamid eine gentoxische und kanzerogene Wirkung auf, für die sowohl eine direkte Wirkung von Acrylamid auf die DNA als auch die Adduktbildung von Glycidamid mit der DNA-Base Guanin (N7-Glycidamid-Guanin) verantwortlich gemacht werden.[5][6][7][8]
Toxikokinetik
Acrylamid wird nach oraler Aufnahme rasch resorbiert. Es kann auch aus Dämpfen über die Lunge und die Haut aufgenommen werden. Zur Plasmaproteinbindung und zum Verteilungsvolumen sind keinen Angaben verfügbar. Acrylamid passiert die Plazenta. Die Biotransformation erfolgt durch Konjugation mit Glutathion (GSH). Aus dem Konjugat entstehen N-Acetyl-S-(2-Carbamoylethyl)cystein (AAMA) oder AAMA-Sulfoxid. Durch die Reaktion mit dem Cytochrom-P450-Isoenzym CYP2E1 kann das Epoxid Glycidamid entstehen, das weiter zu Glyceramid hydrolysiert wird oder ein Addukt mit GSH bildet, das in N-Acetyl-S-(2-Carbamoyl-2-Hydroxyethyl)cystein (GAMA) umgewandelt wird. Acrylamid und Glycidamid bilden Addukte mit Hämoglobin. Die Ausscheidung erfolgt überwiegend mit dem Urin (Acrylamid 4,4 %, AAMA 50,0 %, GAMA 5,9 %). Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 2,4 h (AAMA 17,4 h; GAMA 25,1 h).[2][9]
Risikobewertung
Da Acrylamid als kanzerogen und gentoxisch eingeschätzt wird[10][11], kann für Lebensmittel keine tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (Tolerable Daily Intake – TDI) festlegt werden. Es kann nur ein Mindestdosisbereich (sog. untere Vertrauensgrenze der Benchmark-Dosis BMDL10) angegeben werden, bei dem ein eindeutiges, geringes Gesundheitsrisiko besteht. Für Tumoren wurde die BMDL10 auf 0,17 mg/kgKG/Tag und für neurotoxische Effekte auf 0,43 mg/kgKG/Tag begrenzt.[12]
Das BfR hat 13 epidemiologische Studien zu Erkrankungen an verschiedenen Krebsarten bewertet, ohne dass ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Acrylamidaufnahme und einer Krebserkrankung beim Menschen festgestellt werden konnte.[2]
Minimierung der Exposition
Bereits 2002 etablierten Bund und Länder in Zusammenarbeit mit der deutschen Lebensmittelwirtschaft ein dynamisches Minimierungskonzept, das mit Signalwerten arbeitet (Signalwertkonzept). So wurden vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) jährliche Signalwerte für die jeweiligen Produktgruppen berechnet. Dadurch konnte der Acrylamidgehalt in bestimmten Warengruppen (z.B. Kartoffelchips) in den Folgejahren abgesenkt werden.[13]
Seit dem 11. April 2018 gilt darüber hinaus in allen EU-Mitgliedsstaaten die Verordnung (EU) 2017/2158 zur Festlegung von Minimierungsmaßnahmen und Richtwerten für die Senkung des Acrylamidgehalts in Lebensmitteln.[14][15]
Bei der häuslichen Zubereitung von Lebensmitteln sollte Folgendes beachtet werden, um die Acrylamidaufnahme zu senken:
- Lebensmittel nicht zu stark rösten bzw. anbrennen lassen
- Zubereitungshinweise auf der Packung beachten
- Verschiedene Garmethoden benutzen (Kochen, Dämpfen, Sautieren)
- Ausgewogene Zusammenstellung der Ernährung
Bei einer Verzehrsstudie mit Mischköstlern, Veganern und Rohköstlern wurde festgestellt, dass eine vegane Ernährungsweise im Vergleich zu Mischkost zu einer deutlich höheren Acrylamidaufnahme führt.[1] Dafür verantwortlich ist wahrscheinlich ein durchschnittlich höherer Konsum von gebratenem Gemüse, Fleischersatz aus Tofu oder Seitan sowie Brot.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Monien BH et al. Internal exposure to heat-induced food contaminants in omnivores, vegans and strict raw food eaters: biomarkers of exposure to acrylamide (hemoglobin adducts, urinary mercapturic acids) and new insights on its endogenous formation. Arch Toxicol. 2024
- ↑ 2,0 2,1 2,2 Acrylamid in Lebensmitteln. Stellungnahme Nr. 043/2011 des BfR vom 29.06. 2011, ergänzt am 21.01.2013, abgerufen am 11.07.2024
- ↑ Acrylamid entsteht auch im Körper selbst. BfR Mitteilung 032/2024 am 10.07.2024, abgerufen am 11.07.2024
- ↑ Bader M et al. Querschnittsstudie zur ernährungs- und tabakrauchbedingten Belastung mit Acrylamid. Dtsch Ärztebl 2005
- ↑ Dearfield KL et al. Acrylamide: its metabolism, developmental and reproductive effects, genotoxicity, and carcinogenicity, Mutat Res. 1988
- ↑ Dearfield KL et al. Acrylamide: a review of its genotoxicity and an assessment of heritable genetic risk, Mutat Res. 1995
- ↑ Manière I et al. DNA damage and DNA adduct formation in rat tissues following oral administration of acrylamide, Mutat Res. 2005
- ↑ Friedman M. Chemistry, biochemistry, and safety of acrylamide. A review. J Agric Food Chem. 2003
- ↑ Fuhr U et al. Toxicokinetics of acrylamide in humans after ingestion of a defined dose in a test meal to improve risk assessment for acrylamide carcinogenicity. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev. 2006
- ↑ Lipworth L et al. Review of epidemiologic studies of dietary acrylamide intake and the risk of cancer, Eur J Cancer Prev. 2012
- ↑ Virk-Baker MK et al. Dietary acrylamide and human cancer: a systematic review of literature, Nutr Cancer. 2014
- ↑ Acrylamid in Lebensmitteln, Risikobewertung der EFSA, abgerufen am 11.07.2024
- ↑ Daten zum Acrylamidgehalt in Lebensmitteln (2013 - 2015). BVL, abgerufen am 11.07.2024
- ↑ EU-Minimierungskonzept. BVL, abgerufen am 11.07.2024
- ↑ VERORDNUNG (EU) 2017/2158 vom 20.11.2017, Amtsblatt der Europäischen Union vom 21.11.2017, abgerufen am 11.07.2024
Weblinks
- ECHA Registration Dossier Acrylamide, abgerufen am 11.07.2024
- CHEMIE - Acrylamid, abgerufen am 11.07.2024
- GESTIS - Acrylamid, abgerufen am 11.07.2024
- ICSC INCHEM - Acrylamide, abgerufen am 11.07.2024
- PubChem: 6579
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