Intraossärer Zugang
von lateinisch: intra - innerhalb, os - Knochen
Synonym: i.o.-Zugang
Definition
Als intraossären Zugang bezeichnet man die Punktion des Knochenmarks mit einer Spezialkanüle, um Medikamente und/oder Infusionslösungen einzubringen.
Indikationen
Der intraossäre Zugang ist eine etablierte Alternative zum intravenösen Zugang bei kleinen Kindern, Säuglingen und Neugeborenen sowie bei Erwachsenen. Gerade bei kleinen Kindern, Säuglingen und Neugeborenen kann sich eine Punktion von Venen oft als sehr schwierig erweisen. Das ERC (European Resuscitation Council) empfiehlt einen intraossären Zugang im Rahmen einer Reanimation von Kindern bis 8 Jahren immer dann, wenn kein venöser Zugang liegt oder nicht sofort gelegt werden kann.
Typisches Einsatzgebiet sind präklinische Notfallsituationen, in denen ein intravenöser Zugang nicht (schnell genug) möglich ist und eine vitale Gefährdung besteht:
- Reanimation
- Schock (insbesondere Volumenmangelschock)
- schwere Hypothermie
- kritisch Kranke oder Verletzte, bei denen zur Wiederherstellung der Vitalfunktionen eine Medikamenten- und/oder Volumengabe notwendig ist
Eine prophylaktische Anlage ohne die Notwendigkeit einer unmittelbaren Medikamentengabe wird nicht empfohlen! Falls eine andere Applikationsform verfügbar ist, sollte diese bevorzugt werden (z.B. Adrenalin i.m. bei der Anaphylaxie).
Punktionsorte
Die Auswahl des Punktionsortes hängt von verschiedenen Faktoren ab (z.B. Alter, Verletzungsmuster). Primär zu bevorzugen ist unabhängig vom Alter des Patienten die mediale Seite der proximalen Tibia.
| Punktionsort | Priorisierung |
|---|---|
| proximale Tibia | 1. Wahl unabhängig vom Patientenalter |
| distale Tibia | 2. Wahl unabhängig vom Patientenalter |
| proximaler Humerus | 3. Wahl bei Erwachsenen |
| distales Femur | 3. Wahl bei Kindern |
| Sternum | nur bei Erwachsenen und mit speziellen Systemen (z.B. F.A.S.T.-System) |
Anatomie
Bei der intraossären Punktion wird mittels einer Stahlkanüle die Kortikalis des Knochens durchbohrt, sodass die Kanüle in der Markhöhle zu liegen kommt. Die in den Markraum eingebrachten Arzneistoffe gelangen über die venösen Marksinusoide in die Zentralvenen des Knochenmarks und von dort in die ableitenden Knochenvenen (Venae nutriciae) und in den Systemkreislauf. Bei einer Punktion an der proximalen Tibia ist die erste größere Abflussvene die Vena poplitea, bei Punktion an der distalen Tibia die Vena saphena.
Vorgehen
Die Punktion sollte unter möglichst aseptischen Bedingungen durchgeführt werden. Bei einer Punktion an der proximalen Tibia, sollte diese etwa 2 cm distal der Tuberositas tibiae im 90°-Winkel zur Knochenachse erfolgen. Sitzt die Kanüle fest im Knochen und lässt sich Blut aspirieren, kann von einer korrekten Kanülenlage ausgegangen werden. In einigen Fällen ist das Aspirieren trotz korrekter Lage nicht möglich.
Um einen freien Infusionsfluss zu gewährleisten, sollte die Kanüle zunächst unter Druck frei gespült werden ("flushen").
Über den intraossären Zugang können nahezu alle Medikamente und Infusionslösungen appliziert werden. Nach einer intraossären Medikamentengabe kann mit einem Flüssigkeitsbolus von 5 bis 10 ml physiologischer Kochsalzlösung eine schnellere systemische Einschwemmung erzielt werden. Um bei Volumengabe eine ausreichende Durchflussrate zu erzielen, sollten Druckinfusionsbeutel verwendet werden.
Vorsicht ist bei hypertonen oder alkalischen Infusionslösungen (Natriumbikarbonat) geboten, da sie zu einer erhöhten Infektionsrate und Weichteilnekrosen am Injektionsort führen können.
Lidocaingabe
Nach Anlage eines intraossären Zugangs kann es bei der ersten Injektion über die intraossäre Kanüle zu einem starken Schmerzreiz kommen. Deshalb wurde die intraossäre Applikation eines Lokalanästhetikums (z.B. Lidocain 1 % ohne Konservierungsstoff und ohne Adrenalin: 20 bis 40 mg bei Patienten > 40 kgKG) zur Reduktion intraossärer Schmerzen durch den intramedullären Druck empfohlen.[1] Aufgrund von Zwischenfällen wird in einer Stellungnahme mehrerer Fachgesellschaften die Anwendung von Lidocain bei Anlage eines intraossären Zugangs in der Kindernotfallmedizin nicht mehr empfohlen.[2][3]
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Komplikationen
Komplikationen treten in etwa 1,6 % der Fälle auf und sind häufig Folge einer fehlerhaften Anwendung, z.B. durch eine zu kurze oder zu lange Kanüle.
Typische Komplikationen sind:
- Infektionen des Knochenmarks (Osteomyelitis)
- Abszesse
- Kompartmentsyndrom
- Frakturen
- Fett-/Gasembolie
- Verletzungen der Epiphysenfugen
- Perforation der Gegenkortikalis
- Extravasation
Quellen
- ↑ S1-Leitlinie Die intraossäre Infusion in der Notfallmedizin. AWMF Registernummer 001 - 042, abgerufen am 18.09.2024
- ↑ AkdÄ. Intraossäre Gabe von Lidocain zur Schmerztherapie bei pädiatrischen Patienten – eine nicht sachgerechte, potenziell gefährliche Off-Label-Empfehlung, Dtsch Arztebl 2022
- ↑ Hoffmann F et al. Stellungnahme zum Einsatz von Lidocain zur Reduktion des Injektionsschmerzes beim Legen eines intraossären Zugangs in der Kindernotfallmedizin. Dtsch Ärzteblatt 2024, abgerufen am 18.09.2024