Akut-symptomatischer Anfall
Synonym: Gelegenheitsanfall (umgangssprachlich)
Englisch: acute symptomatic seizure
Definition
Akut-symptomatische Anfälle, kurz ASA, sind epileptische Anfälle, die im direkten zeitlichen Zusammenhang mit einer akuten zerebralen Läsion oder systemischen Noxe auftreten. Sie sind kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern eine Reaktion des Gehirns auf eine akute, potenziell reversible Störung.
Terminologie
Die Internationale Liga gegen Epilepsie (ILAE) definiert ASA als Anfälle, die innerhalb eines ätiologiespezifischen Zeitfensters nach einer akuten Schädigung auftreten:[1][2]
- Innerhalb von 7 Tagen nach ischämischem oder hämorrhagischem Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, anoxischer Enzephalopathie oder intrakranieller Operation,
- bei Erstidentifikation eines subduralen Hämatoms,
- während der aktiven Krankheitsphase einer ZNS-Infektion oder Autoimmunenzephalitis,
- innerhalb von 24 Stunden bei nachgewiesener schwerer metabolischer oder toxischer Entgleisung
- sowie im Rahmen einer Intoxikation oder eines Entzugszustands (z.B. Alkohol- oder Benzodiazepinentzug).
Entscheidend ist, dass ASA nicht Ausdruck einer anhaltenden epileptogenen Disposition, sondern unmittelbar auf die akute Schädigung zurückzuführen sind.
Abgrenzung
ASA unterscheiden sich von unprovozierten Anfällen, die ohne erkennbaren akuten Auslöser auftreten. ASA gelten als symptomatische Reaktion, unprovozierte Anfälle als Ausdruck einer dauerhaften neuronalen Übererregbarkeit, wie sie einer Epilepsie zugrunde liegt. Nach einem ASA besteht definitionsgemäß kein erhöhtes Wiederholungsrisiko, sobald die auslösende Ursache beseitigt ist. Daher wird bei einem ASA keine Epilepsiediagnose gestellt, selbst wenn der Anfall klinisch und elektrographisch wie ein epileptischer Anfall erscheint. Diese Unterscheidung ist vor allem im Hinblick auf die Indikation für eine antiepileptische Dauertherapie von Bedeutung.
Ätiologie
Akut-symptomatische Anfälle können durch eine Vielzahl von Ursachen ausgelöst werden, die sich grob in strukturelle, metabolische, toxische, infektiöse und sonstige Auslöser gliedern lassen:
- Zerebrovaskuläre Ursachen: Ischämischer Schlaganfall, intrazerebrale oder subarachnoidale Blutung, Sinusvenenthrombose. Besonders kortikale Infarkte und ausgedehnte Hämorrhagien gehen mit einem erhöhten Risiko einher.
- Traumatische Ursachen: Schädel-Hirn-Trauma, insbesondere mit parenchymatösen Blutungen, Kontusionsherden oder postoperativen Läsionen.
- Infektiös-entzündliche Ursachen: Meningitis, Enzephalitis, Hirnabszess sowie systemische Infektionen mit sekundärer metabolischer Entgleisung.
- Metabolisch-toxische Ursachen: Hypo- oder Hyperglykämie, Hyponatriämie, Hypokalzämie, Urämie, hepatische Enzephalopathie, Hypoxie, Alkoholintoxikation oder -entzug, Benzodiazepin- und Barbituratentzug, Intoxikationen mit Medikamenten oder Drogen.
- Sonstige Ursachen: Eklampsie, hypertensive Enzephalopathie, postoperative Zustände nach neurochirurgischen Eingriffen, akute demyelinisierende Prozesse oder Immunenzephalopathien.
Pathophysiologie
Der gemeinsame Nenner aller Auslöser liegt in einer akuten Veränderung der neuronalen Homöostase. Durch metabolische Störungen, lokale Ischämie, Entzündungsprozesse oder Toxinwirkung kommt es zu einer Depolarisation von Nervenzellmembranen und einer Störung inhibitorischer Netzwerke. Diese Übererregbarkeit führt zur transienten Synchronisation neuronaler Entladungen und somit zum epileptischen Anfall. Da die zugrunde liegende Störung meist reversibel ist, normalisiert sich die neuronale Aktivität nach Korrektur der Ursache. Persistieren die schädigenden Prozesse jedoch (z.B. bei großen kortikalen Infarkten), kann sich eine dauerhafte epileptogene Zone entwickeln, die im Verlauf zur Epilepsie führt.
Klinik
Das klinische Erscheinungsbild akut-symptomatischer Anfälle ist heterogen und hängt von der Ätiologie sowie der betroffenen Hirnregion ab. Möglich sind fokale motorische oder sensorische Anfälle, sekundär generalisierte tonisch-klonische Anfälle oder seltener nichtkonvulsive Anfallstypen. Bei metabolischen Ursachen treten häufig generalisierte Anfälle auf, während strukturelle Läsionen meist fokale Anfälle verursachen. Wichtig ist die sorgfältige Anamnese, insbesondere zur zeitlichen Beziehung zwischen auslösendem Ereignis und Anfall.
Diagnostik
Die Diagnose eines ASA erfordert den Nachweis oder zumindest den plausiblen Verdacht auf eine akute, epileptogene Noxe.
- Klinische Anamnese: zeitlicher Verlauf, Begleitumstände, medikamentöse oder metabolische Auslöser
- Labor: Bestimmung von Elektrolyten, Blutzucker, Nieren- und Leberparametern, ggf. Toxikologie
- Bildgebung: CT oder MRT zur Erfassung struktureller Läsionen oder Blutungen
- EEG: kann eine vorübergehende epileptiforme Aktivität zeigen, dient vor allem der Abgrenzung nichtkonvulsiver Anfälle oder Status epilepticus
Entscheidend ist die Einordnung des Anfalls in den klinischen Kontext; isolierte EEG- oder Bildbefunde reichen zur Diagnose eines ASA nicht aus.
Therapie
Im Vordergrund steht die Behandlung der auslösenden Ursache. Bei metabolischen Entgleisungen erfolgt die Normalisierung der gestörten Parameter (z.B. Korrektur der Hyponatriämie, Glukosegabe bei Hypoglykämie). Bei strukturellen Ursachen stehen die Akutbehandlung des Schlaganfalls, die Blutungskontrolle oder die Therapie der Infektion im Fokus. Eine längerfristige antiepileptische Therapie ist nur in Ausnahmefällen indiziert, etwa wenn persistierende Risikofaktoren bestehen oder sich wiederholte ASA ereignen. Kurzfristig kann eine antikonvulsive Medikation über einige Tage bis Wochen sinnvoll sein, um Folgeschäden zu vermeiden, insbesondere bei traumatischen oder hämorrhagischen Ursachen.
Prognose
Das Risiko für erneute Anfälle nach einem ASA hängt wesentlich von der Ätiologie und vom Verlauf des Akutereignisses ab. In aktuellen prospektiven Kohorten lag das Risiko für einen unprovozierten Folgeanfall nach einem ASA bei durchschnittlich etwa 10 % innerhalb von 12 Monaten.[3] Langfristige Daten zeigen, dass bei ASA mit Status epilepticus das Risiko für spätere unprovozierte Anfälle deutlich höher liegt (≈ 41 % nach 10 Jahren), während es bei ASA ohne Status nur rund 13 % beträgt.[4] Zum Vergleich liegt das Wiederholungsrisiko nach einem ersten unprovozierten Anfall bei etwa 40–50 % innerhalb der ersten ein bis zwei Jahre.
Quellen
- ↑ Fisher et al. ILAE official report: a practical clinical definition of epilepsy. Epilepsia. 55(4):475-482. 2014 doi:10.1111/epi.12550
- ↑ Beghi et al. Recommendation for a definition of acute symptomatic seizure. Epilepsia. 51(4):671-675. 2010doi:10.1111/j.1528-1167.2009.02285.x
- ↑ Herzig-Nichtweiß et al. Prognosis and management of acute symptomatic seizures: a prospective, multicenter, observational study. Ann Intensive Care. 13(1):85. 2023 doi:10.1186/s13613-023-01183-0
- ↑ Hesdorffer et al. Risk of unprovoked seizure after acute symptomatic seizure: effect of status epilepticus. Ann Neurol. 1998;44(6):908-912. 1998 doi:10.1002/ana.410440609