Migränöser Hirninfarkt
Synonyme: migränöser Infarkt, migränöser Schlaganfall
Englisch: migrainous infarction, migraine-induced (ischemic) stroke
Definition
Als migränösen Hirninfarkt bezeichnet man einen Hirninfarkt, der sich im Rahmen eines Migräneanfalls mit Aurasymptomatik entwickelt und zur Persistenz der Aurasymptome führt.
Abgrenzung
Migränöse Infarkte sind nicht mit der allgemeinen Häufung von Schlaganfällen bei Migränepatienten zu verwechseln.[1][2]
Epidemiologie
Migränöse Infarkte gelten als selten. Bisher (2025) fehlen belastbare epidemiologische Daten zur Inzidenz. Die Angaben variieren zwischen 0,8 und 3,4 Fällen pro 100.000 Einwohnern,[3][4] sind aber aufgrund nicht einheitlicher Definitionen nur eingeschränkt verwertbar. Der Anteil migränöser Infarkte an allen Schlaganfällen liegt unter 1 %.[1][3][5][6] Frauen sind häufiger betroffen als Männer.[3][5][7] Meist handelt es sich um juvenile Schlaganfälle, der Altersmedian wird mit 35 bis 39 Jahren angegeben.[5][7][6]
Ätiopathogenese
Migränöse Hirninfarkte entwickeln sich per definitionem ausschließlich im Rahmen einer vorbestehenden Migräne mit Aura.[2] Häufig liegen dabei keine klassischen Risikofaktoren eines Schlaganfalls vor.[1] Sind Risikofaktoren vorhanden, handelt es sich meist um eine orale Kontrazeption, Rauchen, eine Dyslipidämie oder ein PFO.[5][6][7] Eine Assoziation mit der Einnahme vasoaktiver Migränetherapeutika (Triptane, Ergotamine) konnte bisher nicht sicher gezeigt werden, ist aber bislang (2025) auch nur in sehr kleinen Fallserien untersucht worden.[1][6][7]
Die Pathomechanismen sind bislang (2025) unklar. Vermutet wird u.a. ein erhöhter Energieverbrauch durch die kortikale Depolarisationswelle im Rahmen der Aura bei gleichzeitiger Minderdurchblutung durch Vasospasmen.[1][7][8] Insbesondere in vorgeschädigtem oder vulnerablem Hirngewebe soll es so zum Gewebsuntergang kommen.[1] Zudem werden durch die Depolarisationswelle ausgelöste Endothelschädigungen und Störungen der Blut-Hirn-Schranke als Entstehungsmechanismen diskutiert.[1][8] Denkbar wäre auch eine sekundäre Entstehung einer Aura als Folge einer Ischämie oder wechselseitig verstärkende Effekte. Eine Auslösbarkeit von kortikalen Depolarisationswellen wurde bereits sowohl für größere Hirninfarkte als auch für Mikroembolien beschrieben.[1]
Die meisten migränösen Infarkte betreffen das posteriore arterielle Versorgungsgebiet, insbesondere den Okzipitallappen.[1][6][7][9] Dies korrespondiert mit der allgemeinen Häufigkeit dort enstehender visueller Aura-Phänome. Gelegentlich kann auch das Stromgebiet der Arteria cerebri media betroffen sein.[1][9] Mehrheitlich handelt es sich um kleine Infarkte. Oft finden sich außerdem mehrere Läsionen innerhalb desselben Versorgungsgebietes.[9]
Bei retinaler Aura sind auch Zentralarterienverschlüsse oder ischämische Optikusneuropathien beschrieben.[10]
Klinik
Die Symptomatik entwickelt sich aus einer Migräneattacke mit Aura heraus, wobei in der Aura beginnende neurologische Defizite über diese hinaus persistieren. Die Defizite sind abhängig vom betroffenen Infarktareal ab. Häufig sind u.a.:[1][5][6][10]
- Gesichtsfelddefekte, insbesondere homonyme Hemianopsie und homonyme Quadrantenanopsie; bei retinalem Infarkt monokuläre Sehminderung
- Paresen, z.B. Hemiparese, seltener Tetraparese bei Hirnstamminfarkten
- Sensibilitätsstörungen, z.B. Hemihypästhesie
- Aphasie
Diagnostik
Die Diagnostik entspricht der allgemeinen Schlaganfalldiagnostik. Die Diagnosestellung geschieht nach den ICHD-3-Kriterien der IHS:[2]
- Migräneattacke, welche die Kriterien 2 und 3 erfüllt
- Die aktuelle Attacke tritt bei einem Patienten mit Migräne mit Aura (nach den ICHD-3-Kriterien) auf und ist typisch im Vergleich zu früheren Attacken, mit der Ausnahme, dass ein oder mehrere Aurasymptome für mehr als 60 Minuten anhalten.
- Die zerebrale Bildgebung zeigt einen ischämischen Infarkt in einem zur Symptomatik passenden Hirnareal.
- Die Symptomatik ist nicht besser erklärt durch eine andere Diagnose.
Strenggenommen dürfen okuläre Infarktgeschehen nach diesen Kriterien nicht als migränöse Infarkte klassifiziert werden, weswegen einige Autoren eine diesbezügliche Erweiterung vorschlagen.[10]
Differentialdiagnostik
Differentialdiagnostisch ist eine Migräne mit prolongierter (über 60 Minuten) oder persistierender (über eine Woche) Aura abzugrenzen. Hierbei bleibt die zerebrale Bildgebung jedoch unauffällig.
Therapie
Die Akuttherapie und Sekundärprophylaxe erfolgt nach den Maßgaben der allgemeinen Schlaganfallbehandlung. Zur Therapie migränöser Infarkte im Besonderen existiert derzeit (2025) keine Evidenz.
siehe auch: Schlaganfall
Obwohl hierzu keine Evidenz vorhanden ist, wird ein migränöser Infarkt als mögliche Indikation für eine Migräneprophylaxe angeführt.[11]
Prognose
Leitlinien
- S1-Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne der DGN und DMKG im AWMF-Register, Stand 2022.
- S2e-Leitlinie Akuttherapie des ischämischen Hirninfarktes der DGN und DSG im AWMF-Register, Stand 2021.
- S3-Leitlinie Schlaganfall der DEGAM im AWMF-Register, Stand 2020.
Einzelnachweise
- ↑ 1,00 1,01 1,02 1,03 1,04 1,05 1,06 1,07 1,08 1,09 1,10 1,11 Chiang und Chen, Migrainous infarction. In: Swanson et al. (Hrsg.), Handbook of Clinical Neurology, Elsevier Verlag, 2024.
- ↑ 2,0 2,1 2,2 International Headache Society, Migrainous infarction, ICHD-3-Klassifikation, 2021. Abgerufen auf ichd-3.org am 07.09.2025.
- ↑ 3,0 3,1 3,2 Sochurkova et al., Migraine History and Migraine-Induced Stroke in the Dijon Stroke Registry, Neuroepidemiology, 1999.
- ↑ Henrich et al., Stroke and migraine in the oxfordshire community stroke project, Journal of Neurology, 1986.
- ↑ 5,0 5,1 5,2 5,3 5,4 Arboix et al., Migrainous Cerebral Infarction in the Sagrat Cor Hospital of Barcelona Stroke Registry, Cephalgia, 2003.
- ↑ 6,0 6,1 6,2 6,3 6,4 6,5 Serrano et al., Long-term follow-up of patients with migrainous infarction, Clinical Neurology and Neurosurgery, 2018.
- ↑ 7,0 7,1 7,2 7,3 7,4 7,5 Laurell et al., Migrainous infarction: a Nordic multicenter study, European Journal of Neurology, 2011.
- ↑ 8,0 8,1 Iftikhar et al., Migrainous Infarction and Cortical Spreading Depression, Discoveries, 2020.
- ↑ 9,0 9,1 9,2 Wolf et al., Clinical and MRI characteristics of acute migrainous infarction, Neurology, 2011.
- ↑ 10,0 10,1 10,2 Chhabra et al., Migrainous infarction of the eye: Two cases of monocular ischemic complications associated with retinal migraine, Cephalgia, 2021.
- ↑ DGN und DMKG, S1-Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne im AWMF-Register, Stand 2022.