Gyromitra-Syndrom
von altgriechisch: γύρος ("gyros") - Kreisel und μίτρα ("mitra") - Bischofsmütze
Definition
Beim Gyromitra-Syndrom handelt es sich um eine Form der Pilzvergiftung, die durch die Frühjahrslorchel (Gyromitra esculenta) ausgelöst wird.
Hintergrund
Insbesondere in Russland und im skandinavischen Raum wird die Frühjahrslorchel bis heute gerne verspeist, obwohl sie lebensgefährliche Vergiftungserscheinungen hervorrufen kann. Zwei Stunden abgekocht stellt sie immer noch ein extrem großes Gesundheitsrisiko dar, weswegen in den genannten Regionen bis zu jede zweite Pilzvergiftung auf diese Pilzart zurückzuführen ist. Ähnlich wie die Vergiftung mit den Knollenblätterpilzen (Amatoxin-Syndrom) kommt es auch beim Gyromitra-Syndrom zu starken Schädigungen an Leber und Niere, sowie zu neurologischen Symptomen.
Beschreibung des auslösenden Pilzes
Die Fruchtkörper von Gyromitra esculenta sind dunkelbraun und weisen hirnartige Windungen auf. Der Hut und später der Stiel sind hohl. Im Gegensatz zu vielen anderen Pilzen, die erst im späteren Verlauf eines Jahres zum Vorschein kommen, gehört die Frühjahrslorchel – wie der Name schon sagt – zu den ersten Pilzen, die im Zeitraum von März bis Mai aus dem Boden schießen. Man findet sie insbesondere in Kiefernwäldern und allgemein auf sandigem Boden.
Toxin
Der Hauptgiftstoff der Frühjahrslorchel ist das Gyromitrin. Bei der Zubereitung, spätestens aber im Magen-Darm-Trakt wird diese organische Verbindung zu wasserlöslichem Monomethylhydrazin abgebaut. Dies kann auf Grund seines Siedepunktes bei ca. 86 – 87 °C beim Kochen entweichen, weswegen sogar beim Einatmen der Dämpfe schon Vergiftungserscheinungen möglich sind. Es gibt Berichte über Menschen, die den Pilz völlig unbeschadet überstehen - die Gründe dafür sind jedoch bislang (2021) unbekannt. Es wird dringend davon abgeraten, die eigene Verträglichkeit mit einer Pilzmahlzeit dieser Fruchtkörper zu testen.
Pathophysiologie
Das wasserlösliche Monomethylhydrazin reagiert mit Pyridoxin (Vitamin B6) und hemmt dieses dadurch irreversibel. Da Pyridoxalphosphat eine wichtige Funktion als Cofaktor der Synthese von Gamma-Aminobuttersäure (GABA) einnimmt, reduziert sich in der Folge die Konzentration des Neurotransmitters im ZNS. Dadurch kommt es zu zerebralen Krampfanfällen. Die Hemmung von Pyridoxin ist zudem die Ursache für die ausgeprägte Leberschädigung, da es wichtige Funktionen im Aminosäurestoffwechsel einnimmt.
Monomethylhydrazin methyliert außerdem die DNA (insb. Bildung von O6-Methylguanin) und wirkt dadurch wahrscheinlich kanzerogen.
Symptome
Ebenso wie beim Amatoxin-Syndrom teilen sich die Symptome in eine gastrointestinale und eine hepatorenale Phase. Auch mit den Latenzzeiten verhält es sich ganz ähnlich. Die ersten Krankheitszeichen treten in der Regel sechs bis zwölf, im Extremfall auch bei bis zu 25 Stunden nach dem Verzehr auf. Es kommt dann im Rahmen der gastrointestinalen Phase zu
- Kopfschmerzen
- starken Bauchschmerzen
- Übelkeit
- dauerndem Erbrechen
- wässrigem oder blutigem Durchfall
- Mattigkeit
- Elektrolytstörungen
Die Krankheitszeichen klingen nach 2 bis 6 Tagen ab und es kommt – wie bei einer Knollenblätterpilzvergiftung – zu einer scheinbaren Genesung des Patienten. Nach einem kurzen symptomlosen Intervall tritt er in die lebensbedrohliche hepatorenale Phase ein, die sich wie folgt äußert:
Diagnose
Bei den ersten Anzeichen dieser Pilzvergiftung muss sofort gehandelt werden. Hinweise auf die Diagnose ergeben folgende Maßnahmen:
- Palpation: Abtasten der stark vergrößerten und erhärteten Leber
- Labordiagnostisch zeigt sich ein stark erhöhter Bilirubin-Anteil
- im Gegensatz zum Amatoxin-Syndrom sind die Leberwerte nicht erhöht.
Therapie
Es handelt sich um einen Giftnotfall, der sofortiger medizinischer Behandlung bedarf.
- Gabe von Aktivkohle
- Herbeiführen von Erbrechen
- Gabe von Infusionen zum Ausgleich des Elektrolyt- und Wasserverlustes
- Vitamin-B6-Substitution zur Unterstützung der Leberfunktion
- Sedierung und Vermeidung von Krampfanfällen durch Benzodiazepine
- Gabe von 15 bis 20 g Pyridoxin i.v. (bei Kindern weniger)
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Weblinks
- Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL): Liste der Giftnotrufzentralen und Giftinformationszentren in Deutschland, Österreich und Schweiz zuletzt abgerufen am 14.07.2021
- Berlin (und Brandenburg): Berliner Betrieb für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben Beratungsstelle für Vergiftungserscheinungen, Tel.: 0 30 / 1 92 40
- Göttingen: Giftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, Tel.: 0 55 1 / 1 92 40
- Mainz: Klinische Toxikologie und Beratungsstelle bei Vergiftungen der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen, Tel.: 0 61 31 / 1 92 40 oder 23 24 66
- Bonn (für Nordrhein-Westfalen): Informationszentrale gegen Vergiftungen, Zentrum für Kinderheilkunde, Universitätsklinikum Bonn, Tel.: 0228 / 19 240
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