Amatoxin-Syndrom
Englisch: amatoxin poisoning, amatoxin-syndrome
Definition
Amatoxin-Syndrom ist eine Form der Pilzvergiftung.
Hintergrund
Beim Grünen Knollenblätterpilz (Amanita phalloides) handelt es sich um einen bis zu 20 cm hohen Lamellenpilz, dessen Hut eine Breite von 5–15 cm aufweisen kann. Die Farbe geht von einem extrem hellen grün (fast weiß) bis ins dunkel- bzw. olivgrün. Er kommt von Juni bis Oktober insbesondere in Laubwäldern (insbes. Buchen) teilweise massenhaft vor. Der Grüne Knollenblätterpilz gehört – ebenso wie seine nahen Verwandten, der Weiße Knollenblätterpilz (Amanita verna) und der Kegelige Knollenblätterpilz (Amanita virosa) (beide enthalten Amatoxine) – zu den mit Abstand giftigsten Pilzen in Europa.
Die große Verwechslungsgefahr mit den Fruchtkörpern anderer Pilze erhöht die Gefahr einer Vergiftung.
Die genannten Knollenblätterpilze enthalten grundsätzlich zwei relevanten Giftarten:
- die weniger gefährlichen Phallotoxine (cyclische Heptapeptide, 7 Vertreter bekannt)
- die hochgiftigen Amatoxine (Amanitine, cyclische Oligopeptide aus 8 Aminosäuren; 8 Vertreter bekannt)
Molekulare Wirkung von Amanitinen
Amanitine hemmen die eukaryontische RNA-Polymerase II (Transkriptase), welche die Gene transkribiert, die für verschiedene RNA-Spezies kodieren (genauer: hnRNA, Teile der snRNA und snoRNA). Die RNA-Polymerase III, die für Prä-tRNA, sowie Teile der rRNA, snRNA und snoRNA kodiert, wird erst bei einer sehr hohen Giftkonzentration gehemmt. Besonders durch das Fehlen der hnRNA (Vorläufer der mRNA) kann keine Information mehr aus dem Zellkern ins Zellplasma gelangen. Dort würde normalerweise anhand des RNA-Stranges an den Ribosomen eine Aminosäuresequenz erstellt. Die Genexpression unterbleibt daher in den mit Amanitin vergifteten Zellen komplett und der gesamte Stoffwechsel der Zelle bricht zusammen.
Im Einzelnen bedeutet dies:
- Enzyme können nicht mehr gebildet werden
- Stillstand aller von Enzymen katalysierten Reaktionen
- keine Nachbildung von Strukturproteinen
- Zellalterung kann nicht mehr verlangsamt werden
- sämtliche Hormone werden nicht mehr nachproduziert
- Steuerung des Stoffwechsels fällt aus
- Membranrezeptoren können nicht mehr gebildet werden (Proteine)
Symptome
Gastrointestinale Phase
Die Gifte gelangen nach Ingestion sehr schnell aus dem Gastrointestinaltrakt in die Blutbahn und lösen bereits nach einer Latenzzeit von 1 bis 10 Stunden typische Magen-Darm-Symptome aus.
Im Einzelnen sind dies:
- kolikartige Bauchschmerzen
- Übelkeit und Erbrechen
- wässriger Durchfall
Exsikkose und hypovolämischer Schock können die Folge sein. Meistens lassen sich die Symptome aber durch reichlich elektrolythaltige Getränke wieder lindern.
Hepatorenale Phase
Nach Stunden und Tagen scheinbarer Besserung der Symptome kommt es schließlich nach bis zu 4 –7 Tagen zur Wirkung der lebensgefährlichen Amanitine, die zahlreiche innere Organe, insbesondere die Leber, irreparabel schädigen.
Symptome sind hier:
- Ikterus (durch Hämoglobinzerfall)
- Anstieg der lebertypischen Enzyme (ALT, AST)
- innere Blutungen durch Abfall der Gerinnungsfaktoren
- hepatische Enzephalopathie
- Coma hepaticum
- Anstieg harnpflichtiger Substanzen
- Nierenversagen
Diagnostik
- Labordiagnostisch zeigt sich ein starker Abfall von Antithrombin III
- Histologisch finden sich in der Leber periportale entzündliche Infiltrate
- zentrolobuläre Nekrosen im Lebergewebe
- Begutachtung der Pilzreste durch einen Experten
- Alpha-Amanitin-Bestimmung im Urin
- Lignin-Test
Therapie
Die Vergiftung mit einem Knollenblätterpilz ist ein absoluter Notfall, die sofortiger intensivmedizinischer Behandlung bedarf.
Indizierte Maßnahmen:
- primäre Giftelimination durch Magenentleerung
- Gabe von medizinischer Kohle / Gabe von Laxantien
- Gabe von Silibinin (hemmt Eindringen von Amanitin in Leberzellen und den enterohepatischen Kreislauf)[1]
- empfohlene Dosierung: 20 mg/kg in 24 Stunden, verteilt auf 4 Infusionen (mit je 5 mg/kg). Die Gabe wird so lange fortgeführt, bis die Symptome abgeklungen sind bzw. kein Amatoxin mehr nachgewiesen werden kann.[2][3]
- wenn Silibinin nicht verfügbar ist, kann alternativ Penicillin G verabreicht werden[1]
- ggf. supportive Gabe von Acetylcystein[1]
- Substitutionstherapie mit Antithrombin III und Fresh Frozen Plasma
- Hämodialyse zur Minderung der Niereninsuffizienz
- Hämoperfusion
Bei totalem Leberversagen bleibt nur die Lebertransplantation
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Giftzentralen in Deutschland
- Berlin: Berliner Betrieb für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben Beratungsstelle für Vergiftungserscheinungen Tel.: 0 30 / 1 92 40
- Göttingen: Giftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein Tel.: 0 55 1 / 1 92 40
- Mainz: Klinische Toxikologie und Beratungsstelle bei Vergiftungen der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen Tel.: 0 61 31 / 1 92 40 oder 23 24 66
Weitere Giftzentralen finden Sie hier
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Wennig et al.: Vergiftungen durch Pilze. Deutsches Ärzteblatt, 2020
- ↑ toxinfo suisse: Vergiftungen mit Knollenblätterpilzen (Amanita phalloides) und anderen Amatoxin-haltigen Pilzen (Lepiota-, Galerina- und Amanita-Arten), 2019
- ↑ Fa. Viatris: Fachinformation Legalon SIL (Silibinin), 2023