Frühkindliche Karies
Synonyme: Milchzahnkaries, Nuckelflaschenkaries, Nursing-Bottle-Syndrom, Zuckerteekaries
Englisch: early childhood caries, early childhood tooth decay, baby bottle caries, nursing caries, baby bottle tooth decay, rampant caries, labial caries, maxillary anterior caries, nursing bottle syndrome, nursing bottle caries
Definition
Von frühkindlicher Karies, kurz ECC, spricht man, wenn der Milchzahn eines Kindes unter 6 Jahren bzw. 71 Lebensmonaten eine oder mehrere verfallene, aufgrund von Karies fehlende oder gefüllte Zahnoberflächen aufweist.
Epidemiologie
Die frühkindliche Karies stellt ein zentrales Problem bei Kleinkindern dar. Sie ist die häufigste chronische Erkrankung bei Kindern im Vorschulalter. Die Prävalenz der frühkindlichen Karies in Deutschland bei 3-Jährigen lässt sich auf der Basis einer Studie der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ) von 2016 mit etwa 10 bis 15 % angeben.[1] Bei niedrigem Sozialstatus steigt sie bis auf etwa 40 %. Etwa Dreiviertel der kariösen Milchzähne waren bei den 3‑Jährigen nicht saniert.[2]
Ätiologie
Die ECC wird vor allem durch kohlenhydratreiche Ernährung in Verbindung mit der oralen Besiedelung mit kariogenen Bakterien verursacht. Ein verbreiteter Krankheitspromotor ist dabei die Zufuhr von stark zuckerhaltigen Getränken (Säfte, Smoothies, gesüßte Tees, Limonaden) aus Saugflaschen oder Schnabeltassen ("Nuckelflaschenkaries"). Darüber hinaus spielen mangelnde Zahnhygiene und Schmelzhypoplasien eine Rolle.
Ein weiterer ätiologischer Faktor ist nächtliches Stillens nach dem ersten Lebensjahr. Seine Bedeutung wird jedoch kontrovers diskutiert.
Einteilung
Nach Wyne lässt sich die frühkindliche Karies wie folgt einteilen:[3]
- Typ I: Milde bis moderate ECC. Die Kinder sind meistens zwischen 2 und 5 Jahren alt. Es bestehen isoliert vereinzelte kariöse Läsionen an vorderen mittleren Schneidezähnen und Molaren. Sie entstehen durch halbfeste bis feste kariogene Nahrung und mangelhafte Mundhygiene.
- Typ II: Moderate bis schwere ECC. Sie entspricht dem Nursing-Bottle-Syndrom (NBS), das nach Durchbruch ersten Schneidezähne des Milchgebisses auftritt. Es besteht eine Karies an labialen oder palatinalen Flächen der OK-Incisivi - diese Flächen werden als erstes von Trinkflaschenflüssigkeit umspült. Erst werden die Frontzähne des Oberkiefers, dann der 4er im OK kariös, später der 3er und 5er zerstört. Die Schneidezähne im Unterkiefer sind meist kariesfrei, da die Glandulae submandibulares im UK die Säuren besser puffern. Mögliche Ursachen sind eine verlängerte Zufuhr von zucker-/säurehaltigen Getränken über Saugflaschen, exzessives, über das 1. Lebensjahr hinausreichendes, insbesondere nächtliches Stillen zur Beruhigung sowie unzureichende Mundhygiene. Das klinische Bild zeigt horizontale Streifen an der OK-Front, die teils opak und teils bräunlich sind.
- Typ III: Schwere ECC. Die Kinder sind häufig zwischen 3 und 5 Jahren alt. Fast alle Milchzähne sind betroffen, ggf. auch die Schneidezähne des Unterkiefers. Ursachenfaktoren sind ausgeprägte kariogene (auch flüssige) Kost und schlechte Mundhygiene.
Pathophysiologie
Bereits kurz nach dem Durchbruch der ersten Milchzähne können diese durch kariogene Mikroorganismen befallen werden, v.a. durch Streptococcus mutans und Laktobazillen. Die Ernährung mit Lebensmitteln, die fermentierbare Kohlenhydrate enthalten (wie z.B. Saftgetränke, Erfrischungsgetränke oder Milch) versorgen die Bakterien konstant mit Substraten. Ein häufiger Verzehr von Snacks zwischen den eigentlichen Mahlzeiten und zuckerhaltige Getränke erhöhen das Kariesrisiko anfälliger Zähne.
Klinik
Das klinische Bild der frühkindlichen Karies wird von der American Association of Pediatric Dentistry (AAPD) definiert. Es umfasst das Vorhandensein von nicht kavitierten oder kavitierten Läsionen oder gefüllten Zahnoberflächen an einem oder mehreren Zähnen sowie durch Karies verloren gegangene Milchzähne bei Kindern zwischen der Geburt und dem 71. Lebensmonat.
Wird ECC nicht behandelt, kann es zu folgenden Symptomen kommen:
- Schmerzen
- Abszesse, Fisteln
- gestörter Zahndurchbruch
- Schädigung des bleibenden Zahnkeimes (Turner-Zahn)
- Störungen der Kieferentwicklung
- Störungen der Schluck- und Kaufunktion
- Defizite in der psychosozialen Entwicklung
Prophylaxe
Im Vordergrund steht eine intensive Aufklärung der Eltern über die richtige Ernährung ihrer Kinder und die notwendige Mundhygiene. Häufiges Trinken zuckerhaltiger Flüssigkeiten während des Tages oder im Bett sollte vermieden werden. Weiterhin sollten die Kinder so früh wie möglich (z.B. kurz nach dem ersten Geburtstag) dazu motiviert werden, aus einer Tasse bzw. einem Glas zu trinken.
Darüber hinaus spielt die Fluoridierung eine wichtige Rolle in der Kariesprophylaxe. Ab dem Durchbruch des ersten Zahns sollten die Zähne zweimal täglich mit fluoridhaltiger Zahnpasta geputzt werden. Empfohlen wird je Putzvorgang:[4]
- bis zum Alter von 2 Jahren: eine reiskorngroße Menge Kinderzahnpasta (ca. 0,125 g) mit 1.000 ppm Fluoridgehalt
- im Alter von 2 bis 6 Jahren: eine erbsengroße Menge Kinderzahnpasta (ca. 0,25 g) mit 1.000 ppm Fluoridgehalt
- ab einem Alter von 6 Jahren: 0,5 bis 1 g Zahnpasta für Erwachsene mit 1.500 ppm Fluoridgehalt
Professionell angewandte topische Fluoridbehandlungen sind ebenfalls wirksam.
Therapie
Die Therapie von kavitierten kariösen Zähnen, bei denen eine Fluoridierung nicht mehr angezeigt ist, umfasst abhängig vom Ausmaß der Karies:
- konservierende Therapien wie Füllungstherapien nach abgeschlossener Kariesexkavation
- prothetische Maßnahmen wie das Einsetzen von Milchzahnkronen
Bei vorzeitigem Milchzahnverlust im Seitenzahnbereich sollte eine prothetische Therapie durch Lückenhalter wie herausnehmbare Interimsprothesen oder festsitzenden Distal-end-shoe (Cave: nicht bei Endokarditis) bedacht werden.
Kostenübernahme
Seit dem 1. Juli 2019 übernimmt die gesetzliche Krankenkassenversicherung (GKV) in Deutschland bereits ab dem 6. Lebensmonat bis zum 33. Lebensmonat drei zahnärztliche Früherkennungsuntersuchungen.[5] Zudem werden von der GKV Kosten für das Material Kompomer auch im Seitenzahnbereich übernommen.
Literatur
- Policy on Early Childhood Caries (ECC): Classifications, Consequences, and Preventive Strategies, abgerufen am 6.1.2021
- American Dental Association – Caries Risk Assessment and Management, abgerufen am 6.1.2021
- Kinderzahnmedizin, Jan Kühnisch (Hrsg.); 1. Auflage 2020
- Artikel: Frühkindliche Karies – Ein Überblick; Häufigkeit, Ursachen und Präventionsmöglichkeiten von Dr. Peter Schmidt, Dr. Julian Schmoeckel
- Early Childhood Caries - IAPD Bangkok Deklaration; Deutscher Ärzteverlag, Oralprophylaxe und Kinderzahnheilkunde 2020
Quellen
- ↑ DAJ – Epidemiologische Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2016, abgerufen am 6.1.2021
- ↑ Team DAJ. Epidemiologische Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2016. 1. Bonn: Deutsche Arb.-Gemeinsch. f. Jugendzahnpflege; 2017
- ↑ Wyne AH. Early childhood caries: nomenclature and case definition. Community Dent Oral Epidemiol. 1999 Oct;27(5):313-5. doi: 10.1111/j.1600-0528.1999.tb02026.x. PMID: 10503790.
- ↑ KZBV – Praktischer Ratgeber für die Zahnärztliche Praxis, abgerufen am 22.03.2024
- ↑ Denta-Expert – Karies bei Kleinkindern auf dem Vormarsch, abgerufen am 06.01.2021