(Weitergeleitet von Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom)
Synonyme: ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS), Hyperkinetisches Syndrom (HKS), Zappelphilipp-Syndrom
Englisch: attention deficit hyperactivity disorder (ADHD), attention deficit disorder (ADD)
Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom ist eine vor allem bei Kindern auftretende Verhaltensstörung, die mit Konzentrationsstörungen, motorischer Hyperaktivität und gesteigerter Erregbarkeit einhergeht. Die motorische Hyperaktivität ist allerdings als fakultatives Symptom anzusehen, da es eine Ausprägung ohne Hyperaktivität (Träumer) wahrscheinlich ebenso häufig gibt. Nicht selten finden sich zusätzlich Störungen des Sozialverhaltens. Die Ausprägung und Verteilung der verschiedenen Symptome variiert mit zunehmendem Alter der betroffenen Patienten.
Neben der Bezeichnung "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom" finden sich in der Literatur auch die Termini "Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom" oder "Aufmerksamkeitsdefizitstörung", kurz ADS. Teilweise werden sie synonym verwendet, teilweise soll dadurch zum Ausdruck kommen, dass bei den Betroffenen als Symptom primär die Aufmerksamkeitsstörung, nicht die Hyperaktivität im Vordergrund steht. Als eigene Krankheitsentität hat sich die Bezeichnung ADS bislang (2018) jedoch nicht durchsetzen können.
Die Angaben zur Prävalenz des ADHS unterscheiden sich in Abhängigkeit von den zugrundeliegenden Diagnosekriterien. Die DSM-IV-Kriterien sind niedriger als die Diagnosekriterien nach ICD-10. Gemäß DSM-IV wird die Prävalenz einer situationsübergreifenden Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung auf 3 bis 15% der Kinder im Schulalter geschätzt. Nach den Leitlinien eines Expertenkonsensus persistieren die meisten Symptome - teils in abgemilderter Form - bis in das Erwachsenenalter (Ebert et al., 2003).
Die Ursachen, die zu einem ADHS führen, sind derzeit (2018) noch nicht vollständig aufgeklärt. Generell wird von einer multifaktoriellen Pathogenese ausgegangen, bei der sowohl biologische als auch psychosoziale Faktoren eine Rolle spielen.
Neuere Arbeiten deuten darauf hin, dass neurobiologische Faktoren einen weitaus größeren Einfluss haben als psychosoziale. Sowohl Familien- und Zwillingsstudien als auch molekulargenetische Untersuchungen ergaben, dass genetische Faktoren eine große Rolle bei der Pathogenese spielen.
Schädigungen des Zentralnervensystems während der Schwangerschaft oder Geburt werden ebenfalls mit dem Auftreten eines ADHS in Zusammenhang gebracht.
Die Diagnostik baut auf der allgemeinen Basisdiagnostik psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters auf, wie im Leitfaden beschrieben (Döpfner et al., 2000). Die Diagnose soll durch einen spezialisierten Facharzt erfolgen, in den meisten Fällen durch einen Psychiater oder einen im Bereich ADHS erfahrenen Kinderarzt oder Allgemeinarzt. Bei der hohen Prävalenz der Erkrankung wird letzteres der Regelfall werden, da die vergleichsweise geringe Anzahl der Psychiater, insbesondere der Kinder- und Jugendpsychiater, den Bedarf nicht abdecken kann.
Die Diagnose der ADHS ist komplex und bedarf der Information aus mehrerern Quellen durch eine Kombination aus Interviews, klinischer sowie psychiatrischer und psychologischer Untersuchung. In Interviews sowohl mit den Erziehungsberechtigten als auch dem Lehrer des Kindes wird die aktuelle hyperkinetische Symptomatik, die störungsspezifische Entwicklungsgeschichte und spezifische medizinische Anamnese exploriert. Hilfreich sind standardisierte Fragebögen und validierte Checklisten. Diese Informationen werden dann genutzt, um eine Diagnose nach ICD-10 bzw. DSM-IV zu stellen.
Nach ICD-10 müssen für die Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowohl Aufmerksamkeitsdefizit als auch Hyperaktivität und Impulsivität vorliegen.
DSM-IV sieht dagegen drei Diagnosen vor:
Die Einteilung nach DSM-IV bildet eher die Realität ab. Der hyperaktive Typ ist zumeist der Mischtyp. Experten gehen davon aus, dass der reine hyperaktiv-impulsive Typ praktisch nicht vorkommt. Der unaufmerksame Typ ist zahlenmäßig unterschätzt, weil eine Vorstellung beim Kinder- oder Hausarzt wegen der Unauffälligkeit des Betroffenen seltener erfolgt und die Diagnosestellung erschwert ist.
Eine differentialdiagnostische Abgrenzung und Überprüfung psychischer komorbider Störungen ist zwingend erforderlich.
G1. Unaufmerksamkeit:
Mindestens sechs Monate lang mindestens sechs der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß.
Die Kinder
G2. Überaktivität:
Mindestens sechs Monate lang mindestens drei der folgenden Symptome von Überaktivität in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß.
Die Kinder
G3. Impulsivität:
Mindestens sechs Monate lang mindestens eins der folgenden Symptome von Impulsivität in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß.
Die Kinder
G4. Beginn der Störung vor dem siebten Lebensjahr.
G5. Symptomausprägung: Die Kriterien sollen in mehr als einer Situation erfüllt sein, z.B. sollte die Kombination von Unaufmerksamkeit und Überaktivität sowohl zuhause als auch in der Schule bestehen oder in der Schule und an einem anderen Ort, wo die Kinder beobachtet werden können, z.B. in der Klinik. (Der Nachweis situationsübergreifender Symptome erfordert normalerweise Informationen aus mehr als einer Quelle. Elternberichte über das Verhalten im Klassenraum sind meist unzureichend.)
G6. Die Symptome von G1. - G3. verursachen deutliches Leiden oder Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit.
G7. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84.-), eine manische Episode (F30.-), eine depressive Episode (F32.-) oder eine Angststörung (F41.-).
A. Entweder Punkt (1) oder Punkt (2) müssen zutreffen:
A.1 Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen:
Unaufmerksamkeit
A.2 Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen.
Hyperaktivität
Impulsivität
B. Einige Symptome der Hyperaktivität, Impulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigungen verursachen, treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren (bzw. sechs Jahren nach ICD-10) auf.
C. Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz oder zu Hause).
D. Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit vorhanden sein.
E. Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (z.B. affektive Störung, Angststörung, dissoziative Störung oder eine Persönlichkeitsstörung).
Die ADHS wird mit einem umfassenden Behandlungsprogramm behandelt. Dieses Behandlungsprogramm umfasst in der Regel psychologische, erzieherische und soziale Maßnahmen und wird oft durch eine medikamentöse Therapie ergänzt.
Oft ist die Medikation eine notwendige Unterstützung der Psychotherapie bzw. der Erziehungsberatung und Pädagogik, da die Kinder so die vermittelten Anweisungen und Massnahmen besser umsetzen und eine verbesserte Selbststeuerung haben.
Die aktuelle Leitlinie empfiehlt eine medikamentöse Behandlung bereits ab einer mittelschweren Krankheitsform. In erster Linie wird Methylphenidat eingesetzt und die Dosis an die Erfordernissen des Einzelfalls angepasst. Die Therapie mit Methylphenidat sollte mit einer niedrigen Dosis begonnen und in kleinen Stufen bis zum Erreichen einer verträglichen und genügend wirksamen Dosis gesteigert werden.
Hierbei gilt der Grundsatz, die Dosis so klein wie möglich zu halten, ohne dabei zu niedrig zu dosieren. Die Behandlung sollte einschleichend begonnen werden. Es empfiehlt sich ein Beginn mit 5 mg und Einnahmeintervallen von 3,5 - 4 Stunden. Als praktikabel hat sich folgendes Schema bewährt (Angaben in mg):
Anschließend kann die Tagesdosis in ein- bis zweiwöchentlichen Abständen um 5–10 mg, auf die Gesamttagesdosis bezogen, erhöht werden, wobei eine maximale Tagesdosis von 60 mg nicht überschritten werden sollte.
Die Gesamttagesdosis wird üblicherweise über den Tag verteilt eingenommen. Nach erfolgter Einstellung wird überprüft, ob die Compliance gut ist, da oft die notwendige Einnahme der 2. Dosis während der Schulzeit nicht erfolgt. In diesem Fall kann auf ein lang- oder mittellang wirksames Retardpräparat umgestellt werden, welches die Schul- und Hausaufgabenzeit abdeckt. Wichtig erscheint allerdings die Überlegung, dass eine Abdeckung über den größten Teil des Tages für die Entwicklung des Betroffenen geboten ist, da eine verbesserte Steuerungsfähigkeit in Familie und Peer-Groups mindestens ebenso wünschenswert für die Entwicklung sozialer Fähigkeiten und Reduzierung meist vorhandenen Konfliktpotenzials ist, wie die Verbesserung der Bildungsfähigkeit.
Als nicht-medikementöse Therapie wird das sogenannte Neurofeedback angewandt, vornehmlich von speziell fortgebildeten Ergotherapeuten oder innerhalb von Projektstudien an Universitätskliniken. Dabei wird eine bei ADHS-Betroffenen maßgeblich symptombedingende Anomalie im Bereich der Gehirnfrequenzverteilung durch EEG-unterstütztes Training normalisiert. Verbesserungen der Aufmerksamkeit, Aktivitätsregulation und Impulskontrolle stellen sich üblicherweise nach ca. zehn bis 20 einstündigen Sitzungen ein. Als Therapiedauer werden rund 40 Stunden empfohlen. Die Ergebnisse sollen aufgrund der Neuroplastizität permanent sein und in geeigneten Fällen eine weitere Behandlung mit Psychopharmaka überflüssig machen. Die Methode ist jedoch nicht unumstritten und noch Gegenstand klinischer Forschung.
Die medikamentöse Behandlung des ADHS ist ebenso wie die Diagnose selbst nicht unumstritten und wird - auch innerhalb der medizinischen Fachkreise - kontrovers diskutiert. Einige Kritiker halten ADHS nicht für ein eigenständiges Krankheitsbild, sondern für eine unscharfe Sammelbezeichnung ganz unterschiedlicher Verhaltensstörungen. Andere warnen davor, dass die Pharmakotherapie häufig ohne ausreichende Diagnose verordnet wird und dazu eingesetzt werden könnte, anders geartete Probleme - insbesondere Störungen des familiären Umfelds - zu kaschieren.
Fachgebiete: Kinderheilkunde, Psychiatrie
Diese Seite wurde zuletzt am 27. Juli 2019 um 14:38 Uhr bearbeitet.
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