Zentralnervöse Schmerzverarbeitungsstörung
Synonyme: Zentrales Sensitivierungssyndrom, noziplastisches Schmerzsyndrom, Central Sensitization Pain, Central Sensitization Syndrome, CSS
Englisch: central sensitivity syndrome
Definition
Der Begriff zentralnervöse Schmerzverarbeitungsstörung beschreibt ein heterogenes Spektrum klinischer Syndrome, die durch eine gesteigerte Erregbarkeit zentralnervöser Schmerzverarbeitungsnetzwerke gekennzeichnet sind. Sie beruhen wahrscheinlich auf einer zentralen Sensibilisierung, d.h. einer pathologischen Verstärkung von Schmerzsignalen im Rückenmark und Gehirn, die unabhängig von peripheren Nozizeptoren auftreten und persistieren kann.
Terminologie
Der Begriff wird nicht einheitlich verwendet. Die im englischsprachigen Raum verwendete Bezeichnung "central sensitivity syndrome" wird von einigen Autoren als zentralnervöse Schmerzverarbeitungsstörung übersetzt. In der Literatur wird teils auch von noziplastischen Schmerzsyndromen gesprochen. Aktuell (2025) ist unklar, wie genau die Begriffe zu definieren sind und ob es sich tatsächlich um dieselben Krankheitsbilder handelt. Die grundsätzlichen Annahmen zur Pathophysiologie und zugehörigen klinischen Syndromen überschneiden sich aber zum größten Teil.
Pathophysiologie
Als Ursache der Schmerzverarbeitungsstörung wird eine zentrale Sensibilisierung vermutet. Dabei kommt es zu einer übermäßigen Aktivierung spinaler und supraspinaler Schmerzbahnen, die zu einer erniedrigten Reizschwelle, anhaltender Hyperexzitabilität und inadäquater Schmerzchronifizierung führt. Wichtige Mechanismen sind u. a.
- gesteigerte Glutamat-vermittelte Transmission
- Dysfunktion inhibitorischer Interneurone (GABA, Glycin)
- neuroinflammatorische Prozesse mit Mikroglia- und Astrozytenaktivierung
- maladaptive Plastizität in Hirnarealen wie Insula, anteriorer cingulärer Cortex und Thalamus
Häufig bestehen Wechselwirkungen mit Stress- und Immunsystem, was die Komorbidität mit affektiven und somatischen Erkrankungen erklärt.
Klinische Syndrome
Zu den zentralnervösen Schmerzverarbeitungsstörungen werden u.a. gezählt:
- Fibromyalgiesyndrom
- Chronisches Fatigue-Syndrom/Myalgische Enzephalomyelitis (ME/CFS)
- Reizdarmsyndrom
- Temporomandibuläre Dysfunktion
- Spannungskopfschmerz und Migräne
- Vulvodynie, chronisches Beckenschmerzsyndrom
- Chronisches unspezifisches Rückenschmerzsyndrom
Charakteristisch ist eine Symptomüberlappung, sodass Patienten häufig mehrere Syndrome gleichzeitig aufweisen.
Symptomatik
- Chronische, diffuse Schmerzen ohne adäquates peripheres Korrelat
- Allodynie, Hyperalgesie
- Erschöpfung, Schlafstörungen
- Kognitive Beeinträchtigungen („fibro fog“)
- Häufig komorbide Angst- und Depressionssymptome
Diagnostik
Die Diagnosestellung erfolgt klinisch anhand typischer Symptomkonstellationen und dem Ausschluss anderer Ursachen. Es existiert kein spezifischer Biomarker. Screening-Tools wie das Central Sensitization Inventory (CSI) können unterstützend eingesetzt werden. Bildgebende und neurophysiologische Studien zeigen zwar eine veränderte zentrale Schmerzverarbeitung, sind aber nicht Teil der Routinediagnostik.
Therapie
Bisher (2025) gibt es keine kausale Therapie. Verbreitet wird ein multimodaler Ansatz mit Patientenedukation, Physiotherapie, psychotherapeutischen Verfahren (insbesondere kognitive Verhaltenstherapie) und ggf. Pharmakotherapie (Antidepressiva, Antikonvulsiva) angewendet. Ziel ist die Verbesserung der Funktionsfähigkeit, nicht allein Schmerzfreiheit. Opioide sind in der Regel wenig wirksam und werden nicht empfohlen.
Prognose
Zentralnervöse Schmerzverarbeitungsstörungen gelten als chronische, schwer behandelbare Erkrankungen, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität verursachen. Mit konsequenter multimodaler Behandlung lassen sich jedoch Symptomlast und Krankheitsverlauf günstig beeinflussen.
Literatur
- Yunus. Central sensitivity syndromes: a new paradigm and group nosology for fibromyalgia and overlapping conditions, and the related issue of disease versus illness. Semin Arthritis Rheum. 2008;37(6):339-352.
- Woolf. Central sensitization: implications for the diagnosis and treatment of pain. Pain. 2011;152(3 Suppl):S2-S15.
- Mayer et al. The development and psychometric validation of the central sensitization inventory. Pain Pract. 2012;12(4):276-285.
- Schmidt, Blechschmidt: Noziplastischer Schmerz in Forschung und Praxis. Übersicht über biopsychosoziale Grundlagen, Möglichkeiten und Schwierigkeiten. Der Schmerz, 2023
- Sola: Central sinsitization syndrome: towards the structuring of a mltidisciplinary concept. Med Clin (Barc), 2018
- Wolf: Screening für zentralnervöse Schmerzverarbeitungsstörung. Journal Club Schmerzmedizin, 2016
- Gelbe Liste: Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2024: Zusammenhänge zwischen Depressionen und Schmerzen, abgerufen am 05.09.2025