Gendermedizin
Synonyme: geschlechtsspezifische Medizin, Gender-Medizin
Englisch: gender medicine, gender-specific medicine
Definition
Die Gendermedizin ist ein relativ junges Teilgebiet der Humanmedizin, das sich mit Erkrankungen im Hinblick auf ihre geschlechtsspezifischen Unterschiede beschäftigt.
Hintergrund
Der Fokus der Gendermedizin liegt auf biologischen und psychosozialen Unterschieden der Geschlechter in Bezug auf Pathophysiologie, Symptomatik, Diagnostik, Therapie, Prognose und Prävention von Krankheiten. Zu den Aufgaben gehört die Berücksichtigung des Geschlechtes in allen medizinischen Fachdisziplinen, der Medizinforschung und der Lehre.
Der Begriff "Geschlecht" bezieht sich dabei primär auf das biologische Geschlecht, kann aber ggf. auch das soziale Geschlecht (Gender) einbeziehen.
Zu den Einflussfaktoren auf geschlechtsspezifische Besonderheiten gehören Unterschiede in Bezug auf:
- die Genetik und den Karyotyp
- den Hormonhaushalt
- den Stoffwechsel
- das soziale und kulturelle Umfeld
Geschichte
Die Anfänge der Gendermedizin liegen in den 1980er Jahren. Die US-amerikanische Kardiologin und Medizinwissenschaftlerin Marianne Legato stieß damals auf geschlechterspezifische Unterschiede bei Herzerkrankungen. Im Jahr 1991 beleuchtete ein Editorial im New England Journal of Medicine (NEJM) die Diskriminierung von kardiologischen Patientinnen (sog. Yentl-Syndrom).[1] Die WHO brachte 2001 eine Empfehlung heraus, geschlechterspezifische Präventionsstrategien umzusetzen.
Studium und Lehre
In Deutschland gibt es ein Institut für Geschlechterforschung an der Berliner Charité.[1]
In Österreich gibt es zwei Lehrstühle für Gendermedizin: seit 2010 in Wien und seit 2014 in Innsbruck.
In der Schweiz wurde 2016 die Professur für "Kardiovaskuläre Gendermedizin" vergeben. Seit 2021 kann in Zürich ein Weiterbildungs-Studiengang mit dem Titel "Sex- and Gender-Specific Medicine" absolviert werden.
Beispiele
Einige bedeutsame Erkenntnisse wurden bis heute (2022) u.a. in den Bereichen Kardiologie, Pharmakologie und Onkologie sowie für Lebererkrankungen und Osteoporose gewonnen.
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Die Mortalität von kardiovaskulären Erkrankungen sank in den vergangenen Jahrzehnten bei Männern stärker als bei Frauen.[2][3] Mögliche Gründe dafür sind vorwiegend männliche Patientenkohorten in Präventions- und Therapiestudien.
Die klinische Symptomatik bei Frauen mit kardiovaskulären Erkrankungen unterscheidet sich oftmals von der bei Männern – beispielsweise kommen im Rahmen von Myokardinfarkten seltener die typischen retrosternalen Schmerzen vor. Mögliche Folgen sind Unterdiagnosen, komplikationsreiche Verläufe und weniger Diagnostik sowie Interventionen.
Statistisch gesehen erkranken Frauen später an kardiovaskulären Krankheiten, erleiden häufiger ischämische Schlaganfälle und seltener Myokardinfarkte als Männer.
Pharmakologie
In den Teilgebieten der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik gibt es zahlreiche geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil von verschiedenen Wirkstoffen.
Beispielsweise können Betablocker bei Frauen mehr Nebenwirkungen aufgrund erhöhter Plasmakonzentrationsspiegel verursachen.[4]
Verapamil hat bei Frauen eine größere Bioverfügbarkeit und eine geringere Clearance.[5]
Die ASS-Resistenz ist bei Frauen häufiger als bei Männern.[6]
Onkologie
In Zulassungsstudien von Chemotherapeutika sind bzw. waren Frauen oft unterrepräsentiert. Daher geht man davon aus, dass die empfohlenen Dosierungen oftmals nicht für Frauen und Männer gleichermaßen geeignet sind. Eine mögliche Folge ist, dass Männer eher unter- und Frauen eher übertherapiert werden.
Bei vielen verschiedenen Krebserkrankungen bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich des Erkrankungsalters und der Prognose, z.B. beim kolorektalen Karzinom. Beim malignen Melanom ist die Prognose beispielsweise für Frauen deutlich besser als für Männer.[7]
Lebererkrankungen
Bislang konnten in der geschlechtsspezifischen Forschung Unterschiede in Epidemiologie und Progression von verschiedenen Lebererkrankungen festgestellt werden. Dazu zählen z.B. primäre biliäre Zirrhose, genetische Hämochromatose, nichtalkoholische Fettlebererkrankung, und chronische Hepatitis C.[8]
Osteoporose
Epidemiologische, diagnostische und therapeutische Studien zur Osteoporose wurden weit mehr bei Frauen untersucht. Männer haben nach osteoporotischen Frakturen eine erhöte Mortalität. Die therapeutischen Empfehlungen für männliche Patienten bleiben unzureichend definiert.[9]
Medizinische Wissenschaft
In der Forschung liegen für das männliche Geschlecht in der Regel mehr Daten vor als für das weibliche (Gender-Data-Gap).
Quellen
- ↑ Healy: The Yentl Syndrome NEJM, 1991
- ↑ Jacobs: Coronary intervention in 2009: are women no different than men? Circ Cardiovasc Intervent 2009
- ↑ DGK: Gendermedizin: Frauen überleben schwere Herzinfarkte seltener als Männer 2017
- ↑ 29. Luzier et al.: Gender-related effects on metoprolol pharmacokinetics and pharmacodynamics in healthy volunteers. Clin Pharmacol Ther 1999
- ↑ Krecic-Shepard et al.: Gender-specific effects on verapamil pharmacokinetics and pharmacodynamics in humans J Clin Pharmacol 2000
- ↑ Mosca et al.: Sex/gender differences in cardiovascular disease prevention. What a difference a decade makes. Circulation 2011
- ↑ Ärztezeitung: Melanom - Mehr Frauen als Männer überleben abgerufen am 11.11.2022
- ↑ Munda: Lebererkrankungen: längst kein reines „Männerthema“ mehr MedMedia online, abgerufen am 11.11.2022
- ↑ Fath: Gendermedizin Osteoporose: Männer sind schlechter dran Ärztezeitung online, abgerufen am 11.11.2022
Literatur
- https://www.aerztinnenbund.de/downloads/3/FR.Gendermedizin.pdf
- Redberg RF. Don’t assume women are the same as men: include them in the trial. Arch Intern Med 2012;172:921.
- Dodd KS, Saczynki JS, Zhao Y, Goldberg RJ, Gurwitz JH. Exclusion of older adults and women from recent trial of acute coronary syndromes. J Am Geriatr Soc 2011;59:506–11.
- Chambers TA, Bagai A, Ivascu N. Current trends in coronary artery disease in women. Curr Opin Anesthesiol 2007;20:75–82.
- Oertelt-Prigione S, Regitz-Zagrosek V. Gender aspects in cardiovascular pharmacology. J Cardiovasc Trans Res 2009;2:258–66.
- Kim AM, Tingen CM, Woodruff TK. Sex bias in trials and treatment must end. Nature 2010;10:688–9.
- Onko Internetportal der deutschen Krebsgesellschaft: Malignes Melanom: Schwarzer Hautkrebs abgerufen am 11.11.2022
- Meißner: Welche Geschlechtsunterschiede es beim Kolonkarzinom gibt Springermedizin.de, abgerufen am 11.11.2022
- Gießelmann: Gendermedizin in der Onkologie: Noch nicht in der Praxis verankert
um diese Funktion zu nutzen.