Dissoziation (Psychologie)
Definition
Unter Dissoziation versteht man in der Psychologie einen psychischern Prozess, bei dem normalerweise integrierte Funktionen des Bewusstseins, der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, der Identität oder der Motorik vorübergehend voneinander abgetrennt werden. Die Dissoziation beschreibt eine Aufspaltung des kohärenten Bewusstseinsstroms in mentale Teilfunktionen, die normalerweise integriert sind. Das Verständnis dissoziativer Phänomene ist wichtig für die Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie.
Hintergrund
Dissoziation wird bereits seit dem 19. Jahrhundert erforscht. Pierre Janet und Sigmund Freud gehörten zu den ersten, die dissoziative Prozesse im Rahmen von Traumafolgestörungen beschrieben. Ursprünglich wurden solche Zustände als Hysterie bezeichnet, erst seit dem 20. Jahrhundert erfolgt eine differenzierte Betrachtung von dissoziativen Phänomenen.
Formen
Das Phänomen kann in Form alltäglicher, nicht-pathologischer Erscheinungen (z.B. Tagträumen, automatisiertes Handeln im „Autopilot“) auftreten, manifestiert sich jedoch auch als zentrales Symptom komplexer psychiatrischer Störungen. Dissoziation kann somit eine transiente Reaktion auf Belastung oder ein persistierendes Merkmal spezifischer Krankheitsbilder sein.
Zu den klassischen dissoziativen Störungen nach ICD-10, ICD-11 und DSM-5 zählen u.a. die
- Dissoziative Amnesie (mit oder ohne Fugue)
- Depersonalisation/Derealisation
- Dissoziative Identitätsstörung.
- Dissoziative (konversions-)neurologische Symptome (z.B. motorische oder sensorische Ausfälle, dissoziative Anfälle)
Ätiologie
Dissoziationen treten häufig nach Traumatisierungen auf, insbesondere nach frühkindlichen Missbrauchs- oder Vernachlässigungserfahrungen. Sie werden als psychischer Abwehr- bzw. Schutzmechanismus gegen überwältigende Affekte und Erinnerungen interpretiert. In der klinischen Praxis ist die genaue Erfassung dissoziativer Symptome bedeutsam, da sie die Diagnostik und Therapieplanung bei Traumafolgestörungen, somatoformen Störungen und in der Psychotherapie wesentlich beeinflusst.
Klinische Relevanz
Dissoziative Störungen treten sowohl eigenständig und als auch Symptom anderer Erkrankungen auf, zum Beispiel bei posttraumatischer Belastungsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder akuter Belastungsreaktion. Dissoziative Anfälle sind eine klinische Herausforderung, insbesondere in Abgrenzung zu epileptischen Anfällen. Die Symptome können zu erheblichen Beeinträchtigungen von Beziehungen, Arbeitsfähigkeit und Lebensqualität führen; eine korrekte Differenzialdiagnose ist daher für die Therapie wichtig.
Diagnostisch sind strukturierte Interviews wie das SKID-D hilfreich.
Während kurzfristige Dissoziationen adaptiv sein können, erhöhen chronische und ausgeprägte dissoziative Symptome das Risiko von erheblichen Beeinträchtigungen des Gedächtnis, der Identität, der Affektregulation und zwischenmenschlicher Funktionsfähigkeit. Im Extremfall kann es zu massiven Identitätswechseln oder zu stark belastenden Derealisations- und Depersonalisationszuständen kommen.
Dissoziative Symptome sind in vielen psychischen Störungen transdiagnostisch bedeutsam. Ihre frühzeitige Erkennung verbessert die Prognose, da sie in Psychotherapie und Psychopharmakotherapie spezifische Behandlungsansätze erfordern. Auch in der Notfall- und Traumamedizin spielt die Unterscheidung dissoziativer Zustände von neurologischen Erkrankungen (z.B. Epilepsie, Amnesiesyndrome) eine zentrale Rolle.
Literatur
- Spiegel et al. Dissociative disorders in DSM-5. Depression and Anxiety. 28(9): 824-852. 2011
- Wallis et al. Dissoziation: ein transdiagnostisches Phänomen. Psychotherapie. 68(2):141–154