Psychogener nicht-epileptischer Anfall
Synonyme: psychogener Krampfanfall, dissoziativer Krampfanfall, funktioneller Anfall
Englisch: psychogenic non-epileptic seizure, PNES, functional seizure, dissociative seizure, functional/dissociative seizure, FDS
Definition
Psychogene nicht-epileptische Anfälle, kurz PNES oder PNEA, sind anfallsartige Episoden, die klinisch epileptischen Anfällen ähneln, jedoch nicht durch epileptische neuronale Entladungen verursacht werden. Sie gehören zum Spektrum der funktionellen neurologischen Störungen (FND).[1][2]
Terminologie
Der Begriff "psychogen" wird zunehmend als unpräzise angesehen, da er eine rein psychische Ursache suggeriert. In der internationalen Fachliteratur setzt sich daher zunehmend die Bezeichnung "functional/dissociative seizures" (FDS) durch.[3] Beide Begriffe – PNES und funktionelle Anfälle – werden aktuell parallel verwendet.
Epidemiologie
PNES treten in allen Altersgruppen auf und machen in spezialisierten Epilepsiezentren etwa 10–20 % der Fälle mit therapierefraktären Anfällen aus.[4] Frauen sind etwas häufiger betroffen. Im Kindes- und Jugendalter sind PNES seltener, können aber im Kontext familiärer Belastungen oder schulischer Konflikte auftreten.
Häufig bestehen komorbide psychische Störungen wie Depression, Angst- oder posttraumatische Belastungsstörung.[2] Bei etwa 10–20 % der Betroffenen liegt zudem zusätzlich eine echte Epilepsie vor.
Die Erkrankung ist in der Allgemeinbevölkerung vermutlich unterdiagnostiziert.
Ätiopathogenese
Nach heutigem Verständnis handelt es sich bei PNES um eine multifaktorielle Störung, die im Rahmen eines biopsychosozialen Modells erklärt wird. Biologische Vulnerabilitäten, Stress- und Lernerfahrungen sowie Aufmerksamkeits- und Erwartungseffekte tragen gemeinsam zur Symptomentstehung bei. Die Reduktion auf einen "psychischen Konflikt" gilt als überholt.
Fehlfunktionen in Netzwerken der Körperwahrnehmung und Emotionsregulation führen zu einer unbewussten Fehlsteuerung, die sich in motorischen oder sensomotorischen Anfallsphänomenen äußert.[3]
Klinik
Die Anfallserscheinungen sind sehr variabel. Typisch sind eine lange Dauer, fluktuierende oder asynchrone Bewegungen, geöffnete Augen oder iktaler Lidschluss während des Anfalls, wechselnde Bewegungsmuster sowie eine rasche Erholung nach dem Ereignis. Häufig bleibt die Reaktivität teilweise erhalten.
Keines dieser Merkmale ist allein beweisend. Die sichere Abgrenzung von epileptischen Anfällen gelingt nur durch die Gesamtbewertung klinischer und apparativer Befunde.
Diagnostik
Die Diagnose wird im Zusammenspiel von klinischer Anamnese, Beobachtung und elektrophysiologischen Befunden gestellt.[1]
Goldstandard der Diagnostik ist das stationäre Video-EEG-Monitoring, bei dem ein typischer Anfall beobachtet und simultan aufgezeichnet wird. Zeigt sich dabei keine epileptiforme Aktivität, gilt die Diagnose als gesichert.[1][5] Ein unauffälliges Routine-EEG reicht nicht aus, um Epilepsie auszuschließen. Umgekehrt können Epilepsie und PNES auch nebeneinander bestehen.[4]
Neben der elektrophysiologischen Untersuchung sollten organische, kardiovaskuläre und metabolische Ursachen systematisch ausgeschlossen werden.
Differenzialdiagnosen
Zu berücksichtigen sind epileptische Anfälle (insbesondere frontallappenbedingte Hyperkinesien), konvulsive Synkopen, hypoglykämische Zustände, Bewegungsstörungen, parasomnische Ereignisse sowie dissoziative Episoden ohne motorische Symptome.
Therapie
Die Behandlung zielt darauf ab, Anfälle zu reduzieren, Funktionsfähigkeit wiederherzustellen und Begleiterkrankungen zu behandeln. Sie beruht auf einem mehrdimensionalen Konzept. Dabei ist zunächst die Erklärung der Diagnose entscheidend. Der Zusammenhang zwischen Stress, Körperwahrnehmung und neurologischer Fehlsteuerung sollte dem Betroffenen verständlich erläutert werden.
Eine spezifische pharmakologische Therapie der PNES existiert nicht. Antiepileptika sind bei reinen PNES nicht wirksam und sollten, sofern keine komorbide Epilepsie besteht, schrittweise abgesetzt werden. Auch psychotrope Medikamente wie Antidepressiva oder Anxiolytika werden ausschließlich zur Behandlung komorbider Störungen eingesetzt.
Therapeutisch wirksam sind insbesondere strukturierte, kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen mit Elementen der Psychoedukation, Emotions- und Stressregulation sowie Anfallsselbstmanagement. Die CODES-Studie zeigte eine signifikante Verbesserung der Funktionsfähigkeit und Reduktion der Anfallshäufigkeit unter CBT-basierter Therapie.[6] Auch integrative oder psychodynamische Ansätze können bei entsprechender Indikation hilfreich sein.
Empfohlen wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neurologie, Psychiatrie bzw. Psychosomatik, Physiotherapie und gegebenenfalls Sozialdienst. Die Therapieplanung erfolgt individuell, unter Einbezug psychosozialer Belastungsfaktoren.
In der Akutbehandlung liegt der Fokus auf dem Schutz vor Verletzungen, ABCDE-Maßnahmen und ruhiger Reorientierung.
Prognose
Der Verlauf ist individuell sehr unterschiedlich. Eine frühe Diagnosestellung, eine verständliche Aufklärung und der Zugang zu geeigneter Psychotherapie verbessern die Prognose deutlich.[3] Persistierende Symptome sind möglich, aber häufig rückbildungsfähig. Langjährig unbehandelte PNES können zu Chronifizierung, sozialer Beeinträchtigung und unnötiger Polypharmazie führen.[2]
Fahreignung
Die Fahreignung muss individuell beurteilt werden. Nach dem ILAE-Report darf PNES nicht pauschal mit Epilepsie gleichgesetzt werden. Entscheidend sind Bewusstseinsverlust, Anfallstyp, Häufigkeit und Therapieansprechen. Nationale Regelungen unterscheiden sich; in Deutschland gelten die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung als Referenz.
Weblinks
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 DGN (2023) – S2k-Leitlinie Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter, AWMF 030-041
- ↑ 2,0 2,1 2,2 Aybek und Perez, Diagnosis and management of functional neurological disorder, BMJ, 2022
- ↑ 3,0 3,1 3,2 Hallett et al., Functional neurological disorder: new subtypes and shared mechanisms, Lancet Neurol, 2022
- ↑ 4,0 4,1 Kozlowska et al., Psychogenic non-epileptic seizures in children and adolescents: Part I - Diagnostic formulations, Clin Child Psychol Psychiatry, 2018
- ↑ ILAE Task Force, Konsensus zu Terminologie und Diagnostik funktioneller/dissoziativer Anfälle, 2022
- ↑ Goldstein LH, Robinson EJ, Mellers JDC, et al. Cognitive behavioural therapy for adults with dissociative seizures (CODES): a pragmatic, multicentre, randomised controlled trial. Lancet Psychiatry. 2020;7(6):491-505. doi:10.1016/S2215-0366(20)30128-0