Botulinumtoxin
Handelsnamen: Botulinumtoxin Typ A: Alluzience®, Azzalure®, Bocouture®, Botox®, Dysline®, Dysport®, Letybo®, Nuceiva®, Reflydess®, Vistabel®, Xeomin®; Botulinumtoxin Typ B: NeuroBloc®
Synonyme: Toxinum botulinicum, Botulinum-Neurotoxin (BoNT), Botulismustoxin (BT), Botulinustoxin, Botulin
Englisch: botulinum toxin, abobotulinumtoxinA, daxibotulinumtoxinA, daxibotulinumtoxinA-lanm, evabotulinumtoxinA, incobotulinumtoxinA, letibotulinumtoxinA, onabotulinumtoxinA, prabotulinumtoxinA, relabotulinumtoxinA, rimabotulinumtoxinB
Definition
Botulinumtoxin, kurz BTX, ist ein Sammelbegriff für toxische Stoffwechselprodukte des Bakteriums Clostridium botulinum, von denen die Typen A, B, E und F humanpathogen sind und systemisch das Vergiftungsbild des Botulismus auslösen. Botulinumtoxin wird ebenfalls medikamentös für verschiedene Indikationen eingesetzt.
Biochemie
Botulinumtoxin ist ein zweikettiges Protein mit einem Molekulargewicht von 150 kDa, dessen Aminosäuresequenz zu 30 bis 40 % mit der des Tetanustoxins identisch ist. Es wurden bislang 7 neurotoxische Serotypen identifiziert, die als Botulinumtoxin A, B, C, D, E, F und G bezeichnet werden. Das Protein besteht aus einer leichteren L-Kette von 50 kDa, die eine Bindungsstelle für Zink besitzt und einer schwereren H-Kette von 100 kDa, die sich weiter in ein HN, Hc1 und Hc2 Segment unterteilen lässt. Botulinumtoxin wird durch 5-minütige Behandlung bei 100 °C inaktiviert.
Clostridium botulinum scheidet das Toxin als 900 kDa Proteinkomplex aus. Der Komplex besteht aus dem Botulinumtoxin (toxische Komponente) und weiteren Untereinheiten (nicht-toxische Komponente), die in agglutinierende und nicht-agglutinierende Proteine unterteilt werden können. Innerhalb des Komplexes ist das Toxin vor den extremen pH-Bedingungen und Proteasen im Gastrointestinaltrakt geschützt und kann nur so seine toxische Wirkung im Körper entfalten.[1]
Wirkmechanismus
Botulinumtoxin hemmt die Freisetzung des Neurotransmitters Acetylcholin. Der genaue Wirkmechanismus ist komplex. Die H- und L- Kette des Toxins haben dabei eine unterschiedliche funktionelle Bedeutung. Der eigentliche Träger der toxischen Wirkung ist die L-Kette, die H-Kette dient nur als "Schleusersubstanz".
Die C-terminale Region der H-Kette bindet an bestimmte Oberflächenmoleküle (Ganglioside) auf der präsynaptischen Nervenzellmembran. Die Bindung induziert die Aufnahme des Toxins in die Zelle über Endozytose. Die H-Kette bildet anschließend in den endozytotischen Vesikeln einen Kanal in der Membran aus, durch den die L-Kette in das Axoplasma transloziert wird. Die L-Kette wirkt hier als Zink-abhängige Endopeptidase und bewirkt die Spaltung von 3 Proteinen (Proteolyse), die an der Bildung des so genannten SNARE-Komplexes beteiligt sind: Synaptobrevin, SNAP-25 und Syntaxin. Dadurch wird die präsynaptische Vesikelfusion mit der Zellmembran und die Exozytose von Acetylcholin in den synaptischen Spalt blockiert. Die neuromuskuläre Transmission ist solange unterbrochen, bis die Proteine neu synthetisiert sind.
Toxikologie
Botulinumtoxin ist aufgrund der Substratspezifität der Endopeptidase hoch toxisch. Die für den Menschen letale Dosis beträgt bei oraler Aufnahme 0,1 bis 1,0 ng/kgKG. Bei einer Vergiftung kommt es in der Regel nach 18 bis 36 Stunden zu einer breiten Palette an Vergiftungserscheinungen, die man unter dem Begriff Botulismus zusammenfasst. Sie betreffen vor allem die Muskulatur und das autonome Nervensystem:
- Muskulatur
- Proximal betonte Schwäche der Skelettmuskulatur
- Dysphagie
- Achalasie
- Dysarthrie (Sprechstörung)
- Ptosis
- Herabgesetzte Sehnenreflexe
- Autonomes Nervensystem
- Bradykardie
- Hypotonie
- Harnretention
- Obstipation, aber auch Diarrhoe
- Dilatierte Pupillen
- Akkommodationsstörungen
- Hypohidrosis
Pharmakologie
Indikationen
Botulinumtoxin Typ A[2] und B[3] werden zur symptomatischen Behandlung bei verschiedenen Erkrankungen eingesetzt:
Neurologische Erkrankungen
Botulinumtoxin Typ A ist indiziert bei:
- Fokaler Spastizität
- des Fußgelenkes und des Fußes bei gehfähigen Patienten mit infantiler Zerebralparese, die zwei Jahre oder älter sind, in Kombination mit einer Rehabilitationstherapie
- des Handgelenkes und der Hand sowie des Fußgelenkes und des Fußes bei erwachsenen Schlaganfallpatienten
- Blepharospasmus, hemifazialem Spasmus und koexistierenden fokalen Dystonien
- Chronischer Migräne[4]
Botulinumtoxin Typ A und Typ B sind indiziert bei:
Urologische Erkrankungen
Botulinumtoxin Typ A ist indiziert bei:
- Idiopathischer überaktiver Blase mit den Symptomen Harninkontinenz, imperativem Harndrang und Pollakisurie bei erwachsenen Patienten.
- Harninkontinenz bei Erwachsenen mit neurogener Detrusorhyperaktivität bei neurogener Blase infolge einer stabilen subzervikalen Rückenmarksverletzung oder Multipler Sklerose.
Erkrankungen der Haut
Botulinumtoxin Typ A ist indiziert bei:
- starker, fortbestehender primärer Hyperhidrosis axillaris
Off-Label-Use
- Adipositas - intragastrale Applikation (sogenanntes "Magen-Botox" in die Muskulatur des Magenpförtners) zur Gewichtsreduktion[5][6]; bei Magenwandbehandlungen wird eine wesentlich höhere Dosis appliziert als etwa gegen Falten im Gesicht; es besteht eine besondere Gefährdung durch toxische systemische Wirkungen.[7]
- Analfissur[8]
- Epicondylitis lateralis humeri (Tennisarm)[9]
- Strabismus u.a. Augenkrankheiten[10]
- Vaginismus[11]
Ästhetische Medizin
Der in der Öffentlichkeit bekannteste Einsatz ist die Injektion in die Gesichtshaut zur Lähmung der mimischen Muskulatur im Rahmen der Faltenbehandlung. Hier wird Botulinumtoxin in der Regel intramuskulär oder subkutan in das Gewebe der Stirn-, Augen-, Mund- und Halsregion injiziert.[12]
Pharmakokinetik
Zur Kinetik des Toxins sind keine Daten verfügbar. Die Aufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt ist gering. Wirkungseintritt und Wirkungsdauer sind individuell sehr unterschiedlich.
Darreichungsform
Botulinumtoxin steht in Form von Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung zur intramuskulären Anwendung zur Verfügung.
Dosierung
Die Dosierung richtet sich nach der speziellen Indikation.
Nebenwirkungen
Die bei der Behandlung mit Botulinumtoxin auftretenden Nebenwirkungen variieren je nach Indikation und Körperstelle der Injektion. Eine detaillierte Aufführung der verschiedenen Nebenwirkungen und ihrer Häufigkeit ist der Fachinformation zu entnehmen.
Die systemischen Nebenwirkungen entsprechen den Vergiftungserscheinungen (Botulismus) und treten in der Regel innerhalb der ersten Tage nach der Injektion auf und können, obwohl im Allgemeinen vorübergehend, mehrere Monate oder in seltenen Fällen noch länger andauern.
Lokale Nebenwirkungen der Injektion können beispielsweise Schmerzen, Parästhesien, Schwellungen oder Hämatome im Bereich der Injektionsstelle sein.[2]
Wechselwirkungen
Die Wirkung von Botulinumtoxin kann durch Aminoglykosidantibiotika, Spectinomycin oder andere Arzneimittel, die auf die neuromuskuläre Reizleitung wirken (z.B. neuromuskuläre Blocker), verstärkt werden.[2]
Kontraindikationen
- Überempfindlichkeit gegen Botulinumtoxin oder einen der sonstigen Bestandteile des Arzneimittels
- Infektionen an den vorgesehenen Injektionsstellen
Schwangerschaft und Stillzeit
Die Anwendung von Botulinumtoxin darf in der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, nur bei zwingender Indikation angewendet werden und wird während der Stillzeit nicht empfohlen.[2]
Bei einer retrospektiven Analyse von Schwangerschaften im Zeitraum von 1990 bis 2018 konnte bei Frauen, die ≤ 3 Monate vor oder während einer Schwangerschaft mit Onabotulinumtoxin A behandelt wurden, kein Unterschied bei der Prävalenz schwerer fetaler Defekte bei Lebendgeburten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung festgestellt werden.[13]
Missbrauch
Im Rahmen sogenannter "Botox-Partys"[14] kann es durch Fehlanwendung zu Vergiftungserscheinungen (Botulismus) kommen.[15]
Verschreibungspflicht
Alle Präparate, die Botulinumtoxin enthalten, sind verschreibungspflichtig.
ATC-Codes
- M03AX21 - Andere Muskelrelaxanzien, peripher wirkende Mittel - Botulinumtoxin Typ A
- M03AX22 - Andere Muskelrelaxanzien, peripher wirkende Mittel - Botulinumtoxin Typ B
Quellen
- ↑ Chen et al. Biophysical characterization of the stability of the 150-kilodalton botulinum toxin, the nontoxic component, and the 900-kilodalton botulinum toxin complex species Infect Immun 1998
- ↑ 2,0 2,1 2,2 2,3 Botox® 50/100/200 Allergan-Einheiten. Fachinformation, abgerufen am 16.03.2023
- ↑ NeuroBloc® 5000 E/ml Injektionslösung. Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels, EMA, abgerufen am 16.03.2023
- ↑ Ruscheweyh et al. Therapie der chronischen Migräne mit Botulinumneurotoxin A, Springer Medizin Verlag, 2018
- ↑ Foschi D et al. Treatment of morbid obesity by intraparietogastric administration of botulinum toxin: a randomized, double-blind, controlled study. Int J Obes (Lond). 2007
- ↑ Topazian M et al. Gastric antral injections of botulinum toxin delay gastric emptying but do not reduce body weight. Clin Gastroenterol Hepatol. 2013
- ↑ Botulism cases in Europe following medical interventions with botulinum neurotoxin. European Centre for Disease Prevention and Control 2023-03-14, abgerufen 16.03.2023
- ↑ Jost WH.One hundred cases of anal fissure treated with botulin toxin: early and long-term results. Dis Colon Rectum. 1997
- ↑ Grüner S et al. Botulinumtoxin bei chronischer Epicondylitis humeroradialis. Z Orthop Unfall 2021
- ↑ Roggenkämper P et al. Botulinumtoxin in der Augenheilkunde. Dtsch Ärztebl 2005
- ↑ Ferreira JR, Souza RP. Botulinum toxin for vaginismus treatment. Pharmacology. 2012
- ↑ S1-Leitlinie Ästhetische Botulinumtoxin-Therapie, abgerufen am 16.03.2023
- ↑ Brin MF et al. Pregnancy Outcomes in Patients Exposed to OnabotulinumtoxinA Treatment: A Cumulative 29-Year Safety Update. Neurology. 2023
- ↑ Praxis Dr. Harald Bresser, München, abgerufen am 16.03.2023
- ↑ Hakimi R. Botulinumtoxin. Was bei Botox-Partys gerne verschwiegen wird. MMW Fortschr Med. 2003
Weblinks
- DrugBank - Botulinum Toxins, abgerufen am 16.03.2023
- PharmaWiki - Botulinumtoxin, abgerufen am 16.03.2023
- Drugs.com - Botox Prescribing Information, abgerufen am 16.03.2023