Zwangsstörung
Synonyme: Zwangserkrankung, Zwangsneurose (veralteter Begriff)
Englisch: obsessive compulsive disorder, OCD
Definition
Eine Zwangsstörung ist ein Krankheitsbild aus der Psychiatrie, bei dem die Betroffenen durch Zwangsgedanken und Zwangshandlungen sich selbst oder ihre Umgebung stark belasten.
- ICD10-Code: F42.-
Epidemiologie
Die Zwangsstörung hat in Deutschland eine Lebenszeitprävalenz von etwa 2%. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. Die Manifestation der Zwangsgedanken und Handlungen erfolgt meistens im Kindes-, Jugend oder frühen Erwachsenenalter. Eine Manifestation jenseits des 50. Lebensjahres ist sehr selten und deutet dann eher auf eine organische Ursache (z.B. Hirntumor, Morbus Alzheimer) hin.
Es besteht eine Assoziation zu anderen psychiatrischen Erkrankungen, vor allem zu Depressionen, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen. Zwangskranke sind überdurchschnittlich abhängigkeitsgefährdet, da Alkohol und Tranquilizer die Symptomatik vorübergehend zu lindern vermögen.
Pathophysiologie
Traditionelle Psychoanalyse
Zwangsstörungen wurden bereits von Sigmund Freud als "Zwangsneurose" beschrieben ("Der kleine Hans"). Die traditionelle Psychoanalyse geht davon aus, dass der Zwangsneurose ein infantiler Konflikt zugrunde liegt, der auf einer Störung der analen Entwicklungsphase basiert. Der Konflikt soll aus einer rigiden Über-Ich-Struktur und deutlich antisozialen Triebimpulsen des Es resultieren. Das Ich ist nach diesem Verständnis als Vermittler nicht fähig, klare Entscheidungen zu treffen, da es sich in der frühen Entwicklung nicht ausprobieren durfte und nicht weiß, welche Konsequenz auf welche Handlung folgt. Da der unbewusste Konflikt für den Patienten nicht lösbar ist, soll es zur Kompromissbildung und somit zur Symptombildung der Zwangsstörung kommen.
Die typischen Abwehrmechanismen der Zwangsstörung sind:
Neuere Forschungsergebnisse
Aus neueren Forschungsergebnissen (Stand 2023) geht hervor, dass neben diesen klassischen psychologischen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen genetische und komplexe neurobiologische Faktoren bei der Krankheitsentstehung eine wichtige Rolle spielen.
Bei einer positiven Familienanamnese steigt das Erkrankungsrisiko deutlich an, bei eineiigen Zwillingen bestehen die höchsten Konkordanzwerte. Durch moderne Bildgebung konnte bei Betroffenen eine Fehlfunktion von Strukturen des ZNS, vornehmlich im limbischen System und in den Basalganglien lokalisiert, nachgewiesen werden.
Dabei stehen vor allem Stoffwechselstörungen der Neurotransmitter Serotonin und Dopamin im Blickpunkt des Interesses.
Symptomatik
Die Trennlinie zwischen normal/adäquat und pathologisch ist bei Zwangsstörungen nicht scharf zu ziehen. Entscheidend ist das subjektive Befinden und die Beeinträchtigung der Lebensführung durch die Zwänge. Auch die nähere Umgebung Betroffener kann eine Zwangspathologie entlarven.
Charakteristisch für pathologische Zwangsideen und -verhaltensweisen ist:
- Imperatives Erleben von Ideen oder Denk- und Handlungsimpulsen
- Wiederholtes Auftreten immer gleicher Gedanken und Handlungsmuster
Die Zwänge werden von den meisten Patienten als sinnlos und zweckentfremdet empfunden. Sie ordnen sie jedoch als zur eigenen Person gehörig und nicht als Fremdbeeinflussung ein – es liegt also keine Ich-Störung vor. Beim Versuch, sich den Zwängen zu widersetzen, kommt es zu einer unaushaltbaren inneren Anspannung und Angst. Nur das Ausführen der Zwänge kann diese Anspannung lindern.
Zwangsinhalte
Man unterscheidet prinzipiell Denk- und Handlungszwänge:
Typische Beispiele für Handlungszwänge sind:
Typische Denkzwänge sind das Grübeln über:
- Verschmutzung
- Krankheiten
- Infektion und Ansteckung
- Sexuelle Inhalte
- Religiöse Inhalte
- Aggressivität
Oft sind die Zwangsgedanken dabei den Normen und Werten bzw. dem sozialen Klischee des Patienten entgegengesetzt. Beispielsweise wären ausgefallene sexuelle Fantasien von frommen und verhaltenen jungen Männern zu nennen, die im Verlangen nach Kontrolle der Gedanken in Selbstbestrafungsrituale münden. Zwangskranke neigen auch oft zu sogenanntem "magischen Denken" (Aberglauben). So müssen Farben, Situationen oder auch Zahlenkombinationen vermieden werden, weil sie als unglücksbringend gelten. Entgegengesetzt werden können Gegengedanken oder Zählzwänge.
Abgrenzung zu anderen psychiatrischen Erkrankungen
Zwänge sind häufig Bestandteil der Symptomatik bei affektiven oder schizophrenen Psychosen. Beim Tourette-Syndrom sind sie vergesellschaftet mit Tics. Nur wenn Zwänge als Symptom deutlich im Vordergrund stehen und kein Gefühl von Fremdbeeinflussung vorliegt, spricht man von der Zwangsstörung. Im Gegensatz zur zwanghaften Persönlichkeit werden die Zwänge von Zwangskranken als irrational (ich-dyston) erlebt. Der Zwangskranke kann sich kaum gegen die Ausübung der Zwänge wehren, ein Mensch mit einer zwanghaften Persönlichkeit empfindet seine Zwangshandlungen als normal (ich-synton).
Diagnose
Richtlinien für die Diagnosestellung sind im DSM-IV definiert. Im ICD-10 sind wird lediglich zwischen verschiedenen Unterformen der Zwangsstörung unterschieden wie zum Beispiel:
- Vorwiegend Zwangsgedanken
- Vorwiegend Zwangshandlungen
- Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, gemischt
- etc.
Das DSM-IV sieht als Diagnosekriterien unter anderem vor:
- die Wahrnehmung des sinnlosen Zwanges durch den Betroffenen
- die Einschränkung des Betroffenen, der durch seine Zwänge kein "normales Leben" führen kann
- die Entstehung von Anspannung, die sich bei Ausführen des Zwangs lindern lässt
Therapie
Die medikamentöse Behandlung der Zwangsstörungen wird hauptsächlich mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) oder trizyklischen Antidepressiva (z.B. Clomipramin) durchgeführt. Teilweise wirksam sind auch atypische Neuroleptika.
Psychotherapeutisch kommt in erster Linie die kognitiv-behaviorale Verhaltenstherapie zum Einsatz. Die Psychoanalyse und andere Formen der Psychotherapie (z.B. klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Rogers) benötigen, wenn sie überhaupt wirksam sind, sehr viel Zeit. In vielen Fällen können Selbsthilfegruppen und geschriebene Anleitungen zur Selbsthilfe hilfreich sein.