Münchhausen-by-proxy-Syndrom
nach dem "Lügenbaron" Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen (1720–1797)
Synonyme: Münchhausen-Stellvertretersyndrom, Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, Münchhausen-Syndrom by proxy, fremdbezogene artifizielle Störung, fremdgerichtete artifizielle Störung
Englisch: Munchausen syndrome by proxy, MSBP, factitious disorder by proxy, FDP, fabricated or induced illness, FII, medical child abuse, MCA
Definition
Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom ist eine Sonderform der artifiziellen Störung, bei der physisch gesunde Personen bei einem anderen Menschen (häufig dem eigenem Kind) Krankheiten vortäuschen oder bewusst herbeiführen, um anschließend eine medizinische Behandlung zu verlangen. Ist ein Kind davon betroffen, handelt sich um eine Form der Kindesmisshandlung.
Nomenklatur
Der Begriff Münchhausen-by-proxy-Syndrom ist umstritten, da die Diagnose das Elternteil und nicht das misshandelte Kind in den Vordergrund stellt. Im englischen Sprachraum wird daher zunehmend die Bezeichnung "medical child abuse" (engl. für medizinische Kindesmisshandlung) verwendet. Im nachfolgendem Artikel wird die Person, die vom Münchhausen-by-proxy-Syndrom betroffen ist, als "Täter" bezeichnet.
In seltenen Fällen werden die Krankheiten an anderen Erwachsenen vorgetäuscht, dann spricht man vom "Münchhausen-by-adult-proxy-Syndrom".
Einordnung
Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom gehört wie das eigentliche Münchhausen-Syndrom zu den artifiziellen Störungen und wurde nach dem "Lügenbaron" Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen benannt. Im DSM-IV wird das Münchhausen-Syndrom unter die "nicht-näher bezeichneten vorgetäuschten Störungen" eingeordnet, das Stellvertretersyndrom wird jedoch aus Gefahr möglicher Entlastung im Falle einer Kindesmisshandlung nicht aufgeführt.
Geschichte
Erste Fälle beschrieb der englische Kinderarzt Roy Meadow in The Lancet im Jahre 1977.[1]
Epidemiologie
Die Störung betrifft fast ausschließlich Frauen (98 %). Zu 90 % sind es Mütter, die Krankheiten bei ihren leiblichen Kindern erfinden, übersteigern oder tatsächlich verursachen, um anschließend medizinische Behandlungen einzufordern. Ein Großeil dieser Frauen ist im Pflegebereich tätig oder gibt an, als Krankenschwester zu arbeiten, auch wenn das nicht der Fall ist.
Ausgehend von den geschädigten Kindern wird die Inzidenz des Münchhausen-by-proxy-Syndroms auf 2,5 von 100.000 Kindern im 1. Lebensjahr und auf 0,5 von 100.000 Kindern im 2. bis 16. Lebensjahr geschätzt. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Einteilung
Es werden drei Phasen der artifiziellen Symptomherbeiführung unterschieden:
- Phase 1: Hier werden lediglich die nicht vorhandenen Symptome des Kindes geschildert (z.B. Herz- und Atemstillstände oder epileptische Anfälle).
- Phase 2: Messdaten oder Körpersubstrate des Kindes werden verfälscht. So werden beispielsweise Fieberkurven verändert oder sich selbst abgenommenes Blut oder Eiter dem Urin beigemischt.
- Phase 3: In der letzten Phase erzeugen die Täter reale Symptome, indem sie dem Kind Medikamente oder Gifte verabreichen oder es bis hin zur Bewusstlosigkeit mit einem Kissen oder der Hand ersticken.
Ätiologie
Dem Münchhausen-by-proxy-Syndrom liegt eine Kombination psychopathologischer Störungen zugrunde. Zudem geht es mit vielerlei Komorbiditäten einher. Betroffene Täter tragen häufig Züge einer histrionischen, narzisstischen oder Bordeline-Persönlichkeitsstörung. Zudem gibt es eine Komorbidität mit Essstörungen sowie Depressionen.
Die Täter waren meist selbst Opfer von Kindesmisshandlung und sind in schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen. Sie berichten zudem häufig, dass sie zuvor viele medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen mussten, oder dass Familienangehörige oft krank und behandlungsbedürftig waren.
Diagnose
Die Diagnose eines Münchhausen-by-proxy-Syndroms gestaltet sich oft schwierig und kann zum Teil endgültig nur mittels Videoüberwachungen nachgewiesen werden. Diese werden in verschiedenen Krankenhäusern bei Verdacht auf das Münchhausen-by-proxy-Syndrom verwendet.
Es gibt bislang keine klinisch erprobte Diagnostik. Hinweisend sind u.a.:
- eine hohe Anzahl an Krankenhausaufenthalten des Kindes
- ständig wechselnde, beliebige, aber ausgeprägte Symptome beim Kind, wie Bauchschmerzen, epileptische Anfälle, Bewusstseinsverlust oder Kopfschmerzen
- vehemente Einforderung von medizinischer, vor allem aber auch invasiver Diagnostik und/oder Therapie durch den Täter
Hinzu kommt, dass sich die Täter schnell mit dem medizinischen Personal, insbesondere aber mit dem Pflegepersonal anfreunden und sich als ein Teil des Teams sehen. Verdächtig ist insbesondere die rasche Verbesserung der Symptome nach Trennung von vermutetem Täter und Opfer, vor allem wenn die beschriebenen Symptome immer wieder nur zu Hause auftreten.
Wird ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom festgestellt, sollten die Täter zunächst nicht konfrontiert, sondern zuerst das Kind aus der Obhut entfernt werden, um dessen Schutz zu garantieren. Hierbei sollte auch geprüft werden ob es evtl. weitere Geschädigte gibt (z.B. Geschwisterkinder).
Therapie
Es gibt bislang keine evidenzbasierte Therapie. Individuelle Ansätze, die verhaltenstherapeutische, psychoedukative und/oder konfliktorientierte Elemente kombinieren, können zum Einsatz kommen.
Prognose
Etwa 50 % der geschädigten Kinder sind im Laufe ihres Lebens von psychiatrischen Erkrankungen betroffen. Sie weisen zudem ein erhöhtes Risiko auf, ebenfalls eine derartige artifizielle Störung zu entwickeln.
Weblink
- https://kinderschutzhotline.de/ (Tel.-Nr.: 0800 19 210 00)
Einzelnachweise
- ↑ Meadow R, Munchausen syndrome by proxy. The hinterland of child abuse Lancet, 1977