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Artifizielle Störung

Englisch: factitious disorder

1. Definition

Unter der artifiziellen Störung versteht man eine Gruppe von Verhaltensstörungen, bei der Patienten Krankheitssymptome absichtlich erzeugen, vortäuschen oder aggravieren.

2. Geschichte

Im Jahr 1923 wurde erstmals eine "Operationssucht" beschrieben.[2] Die erste Beschreibung des Münchhausen-Syndroms, einer Unterform der artifiziellen Störungen, aus dem Jahr 1951 geht auf Richard Asher zurück.[3] Die Erstbeschreibung einer weiteren Unterform, des Stellvertreter-Syndroms erfolgte durch den englischen Kinderarzt Roy Meadow.[4]

3. Epidemiologie

Die Inzidenz der artifiziellen Störung beträgt ungefähr 0,5 %. Frauen sind insgesamt häufiger betroffen als Männer. Das Häufigkeitsmaximum liegt im 35. Lebensjahr. Etwa 1 bis 5 % der Patienten in Allgemeinkrankenhäusern und ca. 3 % in neurologischen Kliniken weisen artifizielle Störungen auf. Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch.

4. Einteilung

Unter dem Begriff der artifiziellen Störungen werden mehrere Entitäten zusammengefasst:

  • Münchhausen-Syndrom: Vortäuschen oder Erzeugen von Symptomen am eigenen Körper oder an der eigenen Psyche mit "Krankenhauswandern", geht mit sozialer Desintegration einher
  • Fremdbezogene artifizielle Störung (Münchhausen-by-proxy- oder Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom): Vortäuschen oder Erzeugen von Symptomen an einem anderen Menschen, meist Mütter am eigenen Kind (selten Väter oder Babysitter)

5. Ätiologie und Pathogenese

Die Ätiologie ist zur Zeit (2023) nicht geklärt. Es existieren verschiedene Modelle (psychodynamisch, entwicklungspsychologisch, traumapsychologisch) als Erklärungsansätze. Es wird vermutet, dass das Herbeiführen von Symptomen und die resultierende Patientenrolle als Lösungsversuch für unbewusste Konflikte fungiert.[5]

Patienten, die von einer artifiziellen Störung betroffen sind, waren in ihrem bisherigen Leben in der Regel schweren Belastungen ausgesetzt. Häufig wird in der Anamnese von einem Aufwachsen im Heim, vom frühen Tod eines Familienmitglieds oder auch von sexuellem Missbrauch berichtet. Es findet sich außerdem eine deutliche Überrepräsentation von medizinischen Assistenzberufen (z.B. MFAs).

Das Krankheitsbild wird wahrscheinlich durch den sekundären Krankheitsgewinn bei Zuwendung durch Ärzte oder Angehörige aufrechterhalten. Auch wenn die genaue Motivation weiterhin unklar ist, so spielen zumindest externe Anreize (z.B. Geld) keine Rolle in der Entstehung von artifiziellen Störungen.

6. Klinik

Die vorgetäuschten oder erzeugten Symptome können sehr vielfältig sein und sich auf jedes Organsystem beziehen. Teils werden invasive Eingriffe wie explorative Laparoskopien bis hin zur Extremitäten-Amputation erzwungen. Häufige körperliche Symptome sind dabei:

Mögliche psychische Symptome, die vorgetäuscht werden können, sind:

  • Puerilismus, d.h. Nachahmung der Sprache und Bewegungen eines Kindes
  • bewusstes Geben falscher Antworten oder Fehlhandlungen (Ganser-Syndrom)
  • Pseudodemenz mit Beklagen und Vortäuschen einer gestörten Gedächtnis- und Konzentrationsfähigkeit

Es findet sich außerdem eine Assoziation mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere der Borderline-Persönlichkeitsstörung.

7. Differenzialdiagnose

Die Simulation sollte von der artifiziellen Störung abgegrenzt werden. Im Gegensatz zur artifiziellen Störung haben Patienten, die simulieren, ein bestimmtes Anliegen (z.B. Wunsch nach Berentung).

Differenzialdiagnostisch sollte ebenfalls an eine maskierte Depression gedacht werden. Auch eine Somatisierung kann der artifiziellen Störung ähneln. Dabei werden die Symptome jedoch nicht vorgetäuscht, sondern vom Patienten als real empfunden.

Andere psychiatrische Erkrankungen, bei denen es zur Selbstverletzung kommt, sollten ebenfalls ausgeschlossen bzw. bei Assoziation in Erwägung gezogen werden (z.B. Borderline-Syndrom).

8. Diagnostik

Die Anamnese ist grundlegend, jedoch ist es häufig schwierig, die Diagnose zu stellen. Hinweise auf eine artifizielle Störung im Arztgespräch können sein:

  • wiederholte Arztbesuche mit stets negativen Befunden, umfangreiche Krankenakte
  • unbesorgte bis fachlich interessierte Einstellung hinsichtlich der vorgetäuschten Erkrankung (keine Angst, krank zu sein)
  • Gesprächseindruck "wie mit einem Arztkollegen"
  • bereitwillige Akzeptanz oder gar Forderung invasiver medizinischer Eingriffe (z.B. Knochenmarkspunktion bei Fieber)

Nach ICD-10 sind folgende diagnostische Kriterien charakteristisch für die artifizielle Störung:

  • Absichtliches Herbeiführen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen
  • Handlungen geschehen meistens unbeobachtet und im Verborgenen
  • Vermutliches Ziel ist die Einnnahme der Krankenrolle und die mit ihr verbundenen medizinischen Interventionen.

9. Therapie

Die artifizielle Störung wird durch Psychotherapie behandelt, wobei sich jedoch nur etwa jeder dritte Patient behandeln lässt. Viele Patienten bestreiten die Vortäuschung von Symptomen, so dass keine Psychotherapie möglich ist.

Eine medikamentöse Behandlung ist nicht zu empfehlen.

10. Prognose

Da viele betroffene Patienten bestreiten, von einer artifiziellen Störung betroffen zu sein und sich nicht behandeln lassen, ist die Prognose eher ungünstig. Insbesondere bei assoziierter Borderline-Störung ist die Prognose schlecht, da hier teils todesnahe artifizielle Verletzungen zugefügt werden.

11. Einzelnachweise

  1. ICD-Code.de: andere Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
  2. Schultz et al., Zur Psychopathologie der Operationssucht, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1923
  3. Asher, Richard: "Munchhausen's Syndrome", The Lancet, 1951. Auf ScienceDirect.
  4. Meadow R.: "Munchausen syndrome by proxy. The hinterland of child abuse." Lancet, August 1977. Auf: ScienceDirect
  5. Hausteiner-Wiehle et al., Artifizielle Störungen: Das Vortäuschen von Krankheiten im klinischen Alltag, Deutsches Ärzteblatt, 2020

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