Massenanfall von Verletzten
Englisch: mass casualty, MasCal
Definition
Als Massenanfall von Verletzten, kurz MANV, wird eine Situation bezeichnet, bei der eine so große Zahl von Betroffenen medizinisch versorgt werden muss, dass die rettungsdienstliche Regelversorgung nicht mehr ausreicht. Es liegt ein Missverhältnis zwischen dem Bedarf an medizinischen Ressourcen und den lokal verfügbaren Kapazitäten vor.
Hintergrund
Ein MANV markiert den Übergangsbereich zwischen Notfall- und Katastrophenmedizin. In dieser Situation ist die gewohnte individualmedizinische Versorgung nicht aufrechtzuerhalten. Stattdessen müssen medizinische Maßnahmen systematisch priorisiert und auf viele Betroffene verteilt werden. Übergeordnetes Ziel ist es, so viele Leben wie möglich zu retten.
Einstufung
Die Einstufung eines Ereignisses als MANV ist in Deutschland regional unterschiedlich definiert. In Großstädten und urbanen Ballungszentren sind Schadenslagen mit z.B. 5 bis 10 Verletzten i.d.R. noch regelhaft bewältigbar, während dieselbe Zahl in strukturschwachen, ländlichen Regionen eine schnelle Überforderung der Regelversorgung bedeuten kann. Daher ist bei größeren Schadenslagen häufig eine überörtliche oder überregionale Zusammenarbeit nötig, um eine adäquate medizinische Versorgung sicherzustellen ("Ü-MANV").
Kräftebemessung
Im Falle eines MANV wird für die Bemessung des Kräfteansatzes mit sogenannten "Schutzzielen" geplant. Durch die AGBF NRW (Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehr in NRW) und den VDF NRW (Verband der Feuerwehren NRW) wurden bestimmte Schutzziele bzw. Patientenverteilungen definiert.
Beim 40-20-40-Schlüssel wird z.B. davon ausgegangen, dass 40% der Patienten der Sichtungskategorie I (SK I) zuzuordnen sind, 20% der SK II und 40% der SK III. Anhand dieser Schlüssel wird der bedarfsgerechte Kräfteansatz ermitttelt. Das Schutzziel 40-20-40 benötigt zur Erstversorgung von 10 Patienten beispielsweise 3 RTW, 2 NEF, 1 KTW.
Führungsstrukturen
Die Bewältigung eines MANV erfordert ein koordiniertes, interdisziplinäres Vorgehen. Zentrale Führungsstrukturen zur Koordination vor Ort sind unter anderem:
- Einsatzleitung Rettungsdienst (ELRD)
- Leitender Notarzt (LNA)
- Organisatorischer Leiter Rettungsdienst (OrgL)
- Sanitätseinsatzleitung (SanEL)
- Örtlicher Einsatzleiter (ÖEL)
- Technischer Einsatzleiter (TEL)
- Gesamteinsatzleiter der Feuerwehr
Die Gesamteinsatzleitung liegt bei Beteiligung der Feuerwehr beim örtlich bestellten Einsatzleiter der Gebietskörperschaft oder (in Großstädten) bei der höchsten Führungskraft vor Ort.
Bei großflächigen oder komplexen Schadensereignissen wird auf Ebene des Landkreises oder der kreisfreien Stadt in der Regel ein Führungsstab eingerichtet. Ergänzend kommen Schnelleinsatzgruppen (SEG), Bereitschaften der Hilfsorganisationen oder Medizinische Task Forces (MTF) zum Einsatz.
Einsatztaktisches Vorgehen
Bein einem MANV geht es darum, schnell die medizinische Lage zu erfassen, passende Einsatzkräfte zu alarmieren und die Patienten nach Dringlichkeit zu sichten und erstzuversorgen. Danach sollen die Patienten so stabilisiert werden, dass sie transportfähig sind.
Durch die Einsatzleitung wird der Einsatzabschnitt "Medizinische Rettung" eröffnet, der durch den OrgL und den LNA geführt wird. Er untergliedert sich wie folgt:
- Vorsichtung/Priorisierung: medizinische Ersteinschätzung der Patienten nach Sichtungskategorien anhand von Algorithmen (z.B. MSTaRT-Schema)
- Patientenablage: zur räumlichen Ordnung, Zwischenversorgung und Stabilisierung
- Transportorganisation: Organisation von klinischer Versorgungskapazität und geeignetem Rettungsmittel zum Transport
Weitere Abschnitte sind:
- Ladezone: Aufnahmezone zum priorisierten Abtransport in geeignete Kliniken
- Rettungsmittelhalteplatz: Koordination eintreffender RTW/NEF/KTW oder Einsatzfahrzeuge der SEG
Im Einsatzverlauf werden die ersteintreffenden Rettungsmittel in der Erstversorgung eingesetzt und entfallen damit zunächst als Transportressource.
Sichtung und Priorisierung
Die medizinische Sichtung ist ein zentrales Element im MANV-Management und dient der strukturierten Einteilung der Betroffenen nach dem Schweregrad ihrer Verletzungen sowie der Dringlichkeit der Versorgung. Die begrenzten Ressourcen sollen bestmöglich eingesetzt werden.
In Deutschland kommen standardisierte Verfahren wie das mSTaRT-Schema zum Einsatz. Dabei erfolgt eine Kategorisierung der Patienten in fünf Sichtungskategorien:
| Sichtungskategorie | Beschreibung | Konsequenz |
|---|---|---|
| I (rot) | akute vitale Bedrohung | sofortige Behandlung |
| II (gelb) | schwer verletzt/erkrankt; aktuell stabil | aufgeschobene Behandlungsdringlichkeit |
| III (grün) | leicht verletzt/erkrankt | späte (ambulante) Behandlung |
| IV (blau)* | keine Überlebenschance | betreuende/abwartende Behandlung |
| V (schwarz) | Tod | Kennzeichnung (Keine Therapie) |
- Die SK IV wird nur in Katastrophenlagen ausgerufen, in denen eine SK I-Versorgung nicht mehr gewährleistet werden kann.
Die Feststellung der medizinischen Lage erfolgt zweistufig:
- Vorsichtung: Wird unmittelbar durch die zuerst eintreffenden Rettungsmittel durchgeführt (z.B. Notfallsanitäter oder Rettungssanitäter). Sie dient der schnellen Ersteinschätzung und Priorisierung, um kritische Patienten frühzeitig zu erkennen und erste Maßnahmen einzuleiten, z.B. das Stoppen lebensbedrohlicher Blutungen mittels Tourniquet.
- Sichtung: Erfolgt zeitlich versetzt durch den Notarzt oder den Leitenden Notarzt (LNA). Sie dient der ärztlichen Einschätzung sowie gegebenenfalls der Revision der Vorsichtung.
Die Sichtungskategorien werden dokumentiert, in der Regel über Sichtungskarten, farbige Kennzeichnungen oder digitale Systeme. Sie dienen Koordination des Transports, der Klinikzuweisung und der weiteren Versorgung.
Klinische Versorgung
Kliniken sind verpflichtet, auf MANV-Lagen vorbereitet zu sein und anfallende Patienten aufzunehmen. Die Aufnahmekapazität, Schockraumorganisation, OP-Ressourcen und Bettenkapazität müssen in kurzer Zeit aktiviert und angepasst werden. Dafür sind:
- Alarm- und Einsatzpläne (Krankenhausalarm- und -einsatzplan (KAEP)
- Aktivierung der Krankenhauseinsatzleitung (KEL)
- Sichtung im Schockraum
- Ressourcenpooling (OP, Intensivstation, Chirurgie, Radiologie)
- Kommunikation mit Leitstelle und überregionalen Koordinierungsstellen
von zentraler Bedeutung.
Literatur
- Bundesamt für Bevölkerungsschutz: Massenanfall von Verletzten (MANV), Stand Juni 2025
- Scholz et al. Referenz Notfallmedizin. Teil III: Rettungsdienstliche Konzepte. Kapitel 27: Massenanfall von Verletzten und Erkrankten (MANV/E). Stuttgart: Georg Thieme Verlag. 2019
- Schreiber et al. Managementstrategie für den Massenanfall von Erkrankten/Infizierten in Alten- und Pflegeheimen im Kontext der COVID-19-Pandemie.. Notfall + Rettungsmedizin, 24(3), 232–239. 2021
- Wolf et al. Primary care hospital for a mass disaster MANV IV. Experience from a mock disaster exercise. Unfallchirurg, 112(6), 565–574. 2009
- Moeller et al. Überblick im Terror‑MANV – ein neues Klinikkonzept. Die Unfallchirurgie, 126(8), 662–668. 2023
- AG Massenanfall ÄLRD Bayern: Empfehlung zur nichtärztlichen Vorsichtung im Massenanfall von Verletzten – Version 1.1. Arbeitsgemeinschaft der Ärztlichen Leiter Rettungsdienst Bayern, 2014.
- AG Massenanfall ÄLRD Bayern. (2016). MANV‑Richtlinie 2016 – Richtlinie mit Anlage. Arbeitsgemeinschaft der Ärztlichen Leiter Rettungsdienst Bayern.