Kipptischuntersuchung
Synonym: Kipptisch-Test, Kipptisch-Versuch
Definition
Die Kipptischuntersuchung, kurz KTU, ist ein Untersuchungsverfahren zur Abklärung unklarer Synkopen durch die Beurteilung der körperlichen Reaktion auf passive Lageänderungen (Orthostase-Reaktion).
Durchführung
Vorbereitung
Vor der KTU muss bei Patienten mit struktureller Herzerkrankung eine Arrhythmie oder ein anderer kardiovaskulärer Grund für eine Synkope ausgeschlossen werden. Außerdem sollte der Patient vor der Untersuchung ca. vier Stunden nüchtern sein. Zunächst wird er auf einer aufkippbaren Liege mit Haltegurten fixiert und gesichert. Es wird kontinuierlich ein Elektrokardiogramm aufgezeichnet und der Blutdruck gemessen - am besten als nicht-invasive, kontinuierliche Messung ("Beat-to-beat-Messung"). Außerdem wird dem Patienten ein intravenöser Zugang gelegt.
Messung
Nach ungefähr 20 Minuten in liegender Position wird der Patient schnell auf etwa 60-70° vertikal aufgerichtet. Nach weiteren 20 Minuten oder mit dem Auftreten einer Synkope wird der Patient wieder in die waagerechte Position gekippt und die Untersuchung ist beendet. Die Synkope ist als Bewusstseinsverlust und/oder Unfähigkeit, aktiv stehenzubleiben definiert, beides verbunden mit einem Abfall der Herzfrequenz und/oder des Blutdrucks.
Provokationstestung
Falls der Patient bis zum Ende asymptomatisch geblieben ist, kann in fortgesetzt aufrechter Körperhaltung Nitroglycerin (300 oder 400 µg sublingual) als Provokationsmanöver verabreicht werden.
Auswertung
Normalbefund
Folgenden Kriterien gehören zum Normalbefund:
- Keine exzessiven Blutdruckschwankungen
- Pulsdruckreduktion um maximal 50%
- Herzfrequenzanstieg um maximal 30/min
- Keine orthostatische Hypotension:
- Absinken des systolischen Blutdrucks um weniger als 20 mmHg
- Absinken des diastolischen Blutdrucks um weniger als 10 mmHg (normalerweise eher geringer Anstieg um ungefähr 10 mmHg)
- Absinken des arteriellen Mitteldrucks um weniger als 20 mmHg
- Anstieg des peripheren Widerstandes
Pathologischer Befund
Eine Synkope während der Stehphase gilt als positives Ergebnis. Je nach Dynamik der zu messenden Parameter können prinzipiell Rückschlüsse auf die Synkopenursache gezogen werden. Kommt es regelhaft innerhalb von ungefähr drei Minuten nach dem Aufrichten zu einem progressiven Abfall des Blutdrucks (diastolisch > 10 mmHg, systolisch > 20 mmHg) bis hin zur Synkope, spricht dies für eine orthostatische Hypotonie/Dysregulation. Die Herzfrequenz kann hierbei gleich bleiben oder erniedrigt sein (asympathikotone Form) oder um > 16/min ansteigen (sympathikotone Form, Hinweis auf Hypovolämie).
Bei einer Reflexsynkope, in der Literatur unheitlich auch vasovagale oder neurokardiogene Synkope genannt, kommt es initial meist zu einer regelrechten Adaption an die Lageveränderung. Nach längerem Stehen fällt jedoch plötzlich der Blutdrucks und/oder die Herzfrequenz ab. Meist gehen hierbei vegetative Prodromi (Übelkeit, Hitzegefühl, Schweißausbruch) der Synkope voraus. Die modifizierte VASIS-Klassifikation (Vasovagal Syncope International Study) bietet eine mögliche Einteilung der neurokardiogenen Synkopen je nach Ergebnis der KTU:[1]
Typ | Häufigkeit | Kriterien |
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Typ 1 (Mischtyp) | 52% |
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Typ 2A (Kardioinhibitorischer Typ ohne Asystolie) | 11% |
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Typ 2B (Kardioinhibitorischer Typ mit Asystolie) | 20% |
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Typ 3 (Vasodepressorischer Typ) | 11% |
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Ausnahme 1: Chronotrope Inkompetenz (CI) | 4% |
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Ausnahme 2: Überschießender Frequenzanstieg (HFR, posturales Tachykardiesyndrom, POTS) | 2% |
|
Aussagekraft
Nach der ESC-Leitlinie 2018 dient die Kipptischuntersuchung als Bestätigungstest bei begründetem Verdacht auf eine Reflexsynkope.[2] Sie weist eine Sensitivität von 78–92% und eine Spezifität von 87–92% auf.[3] Die Indikation zur KTU wird als IIa B-Empfehlung bewertet bei Patienten mit vermuteter Reflexsynkope, orthostatischer Hypotonie, posturalem Tachykardiesyndrom (POTS) oder psychogener Pseudosynkope. Sie kann außerdem hilfreich sein zur Differenzierung zwischen konvulsiver Synkope und Epilepsie sowie zur Abgrenzung von Synkopen und Stürzen. Eine negative KTU schließt eine Reflexsynkope nicht aus. Bei ungeklärter oder kardiogener Genese kann die KTU außerdem falsch positiv sein. In diesen Fällen legt ein pathologisches Ergebnis nur eine allgemeine Hypotonieneigung nahe. Entsprechend stellt die KTU keinen Suchtest bei ungeklärter Synkope dar.
Komplikationen
Nur sehr selten treten Komplikationen auf. Asystolien wurden zwar beschrieben, sind jedoch nicht als Komplikation im engeren Sinne, sondern als Endpunkt des Tests zu werten. Bei Auftreten einer Synkope reicht meist das Zurückkippen in die liegende Position aus. Ein Arzt sollte während der Untersuchung in der Nähe und sofort verfügbar sein.
Kontraindikationen
Als Kontraindikationen für die Untersuchung gelten:
- Wirksame Stenose des linksventrikulären Ausflusstraktes bzw. Aortenklappenstenose
- Kritische Mitralklappenstenose
- Schwere proximale Koronarstenose
- Zerebrovaskuläre Stenose
- Schwangerschaft
Literatur
- Sutton et al. Proposed classification for tilt induced vasovagal syncope. Eur J Cardiac Pacing 1992, 2: 180-183
- Brignole et al. New classification of haemodynamics of vasovagal syncope: beyond the VASIS classification. Europace 2000; 2: 66-76
- Weber T. Stellenwert der Kipptischuntersuchung in der Synkopenabklärung. Austrian Journal of Cardiology 2003; 10(11), 473-480
- Diehl RR et al. DGN Leitlinie Synkopen 2012 aus Diener HC, Weimer C. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Stuttgart: Thieme, 2012
- Suttorp N et al., Harrisons Innere Medizin. 19. Auflage. Berlin. ABW Wissenschaftsverlag; 2016
- Von Scheidet W et al. DRK-Leitlinie: Manual zur Diagnostik und Therapie von Synkopen. Kardiologe, Ausgabe 03/2019
Quellen
<references>
- ↑ Kurbaan AS et al. Usefulness of tilt test-induced patterns of heart rate and blood pressure using a two stage protocol with glyceryl trinitrate provocation in patients with syncope of unknown origin. Am J Cardiol 1999; 84: 665-70, abgerufen am 18.06.2019
- ↑ Brignole M, Myoa A et al. ESC Guidelines for the diagnosis and management of syncope. Eur Heart J 2018, abgerufen am 18.06.2019
- ↑ Sutton R, Brignole M. Twenty-eight years of research permit reinterpretation of tilt-testing: hypotensive susceptibility rather than diagnosis. Eur Heart J 2014, 35:2211-2212, abgerufen am 18.06.2019