Kapselendoskopie
Definition
Die Kapselendoskopie ist ein seit dem Jahr 2001 angewendetes bildgebendes Verfahren zur Darstellung der Schleimhaut des Verdauungstraktes mit Hilfe einer schluckbaren Kamerakapsel. Auf ihrem Weg durch den Magen-Darm-Kanal nimmt die Kapsel automatisiert Bilder aus dem Verdauungstrakt auf und sendet sie nach außen an einen tragbaren Datenrekorder. Später können die Bilder von einem entsprechend geschulten Arzt auf krankhafte Veränderungen hin beurteilt werden.
Hintergrund
Die Kapselendoskopie ist Goldstandard in der Primärdiagnostik von Dünndarmerkrankungen. In der Diagnostik des Dickdarms ist sie als Alternative zu sehen, wenn die Durchführung einer herkömmlichen Koloskopie nicht möglich oder mit zu hohen Risiken verbunden ist, unvollständig war oder von den Patienten abgelehnt wird.
Geschichte
Die Erstbeschreibung der Kapselendoskopie erfolgte im Jahr 2000. Für Europa wurde die Kapselendoskopie von der Firma Given Imaging Ltd, Jokne'am, Israel, im Jahr 2001 zum klinischen Einsatz gebracht, nachdem für Europa die CE-Zertifizierung und für die Vereinigten Staaten von Amerika die Zulassung durch die Food and Drug Administration (FDA) erfolgt waren. Mittlerweile gibt es mehrere Hersteller von Kamerakapselsystemen.
Ursprünglich wurde die Methode zur Untersuchung von bis dahin endoskopisch nur schwer zugänglichen Dünndarmabschnitten entwickelt. Heute lassen sich alle Abschnitte des Magen-Darm-Kanales kapselendoskopisch untersuchen. Dabei werden für jeden Darmabschnitt speziell abgestimmte Kamerakapseltypen eingesetzt. In Europa von Bedeutung sind v.a. die kapselendoskopischen Untersuchungen des Dünn- und des Dickdarms, weniger die für die Speiseröhre und den Magen.
Technische Ausstattung
Die Kamerakapsel für den Dünndarm ist eine winzige, leicht schluckbare, im Magen-Darmkanal frei schwimmende Digitalkamera. Einschließlich Beleuchtung, Steuer- und Sendeelektronik sowie den Batterien hat sie eine Abmessung von ca. 26 mm Länge und etwa 11 mm Durchmesser. Die neueste Kapselgeneration passt die Bildaufnahmefrequenz der Geschwindigkeit an, mit der sich die Kamerakapsel im Darm bewegt: bei langsamer Geschwindigkeit werden zwei Bilder pro Sekunde aufgenommen, in schnellen Passagen dagegen sechs Bilder pro Sekunde. Dies erfolgt mit einem Aufnahmewinkel von 156°. Das kleinste erkennbare Objekt hat eine Größe von 0,07 mm. Die Batteriekapazität gewährleistet eine Aufnahme-/Untersuchungsdauer von 11 Stunden und mehr.
Die Videokapsel für den Dickdarm hat zwei Kameraköpfe: an jedem Ende eine. Dadurch können hinter Falten liegende Areale besser abgebildet werden, die mit anderen Verfahren deutlich schwerer einsehbar sind. Beide Kameraköpfe besitzen einen Aufnahmewinkel von je 172°, so dass fast eine Rundumsicht gegeben ist. Auch bei der Dickdarmkapsel variiert die Bildaufnahmefrequenz in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit, mit der sich die Kamerakapsel im Darm bewegt, und zwar zwischen 4 und 35 Bildern pro Sekunde.
Durchführung
Vor Beginn einer Kapselendoskopie ist eine gründliche Darmreinigung nötig. Die Reinigung des Dickdarms entspricht in etwa der für eine herkömmliche Darmspiegelung. Für eine Dünndarmuntersuchung ist eine weniger aufwendige Reinigung notwendig. Dann wird die Kapsel geschluckt. Während ihrer vier- bis zehnstündigen Reise durch den Verdauungstrakt nimmt sie 50.000 bis 60.000 Bilder aus dem Darminneren auf, die per Funk an eine am Körper mitgeführte Empfangs- und Speichereinheit gesendet werden. Der Patient kann sich während der Untersuchung frei bewegen. Die Bilder werden später zu einem Videostream zusammengefügt und von einem speziell geschulten Arzt ausgewertet.
Die Kapsel wird nur ein einziges Mal verwendet, weshalb keine Hygieneproblematik besteht. Die Untersuchung kommt ohne ionisierende Strahlung aus. Auf die Gabe von Sedativa, wie sonst vielfach bei herkömmlichen Spiegeluntersuchungen erforderlich, kann völlig verzichtet werden. Die der Gabe von Sedativa verbundenen Komplikationen oder Nachwirkungen (z.B. Fahr- und Geschäftsuntüchtigkeit) kommen bei der Kapselendoskopie nicht vor. Bei der Untersuchung mit der Dickdarmkapsel trinkt der Patient während der Passage der Kapsel zusätzlich 1- bis 2-mal eine spezielle Flüssigkeit, damit die Kapsel schneller den Dickdarm erreicht.
Indikationen
Dünndarmkapselendoskopie
Die Dünndarmkapselendoskopie hat sich als diagnostischer Goldstandard für die Beurteilung des Dünndarms etabliert. So kann nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) der Einsatz der Dünndarmkapsel prinzipiell bei jedem Verdacht auf eine Dünndarmerkrankung angezeigt sein. Die wichtigste Indikation ist jedoch die Abklärung einer weder aus dem Magen noch aus dem Dickdarm stammenden Blutung, der sog. mittleren gastrointestinalen Blutung (MGIB).
In den letzten Jahren wird die Kapselendoskopie auch bei Patienten mit Verdacht auf oder bei bekannter chronisch entzündlicher Darmerkrankung (z.B. Morbus Crohn) in bestimmten Fragestellungen eingesetzt.
Weitere mögliche Indikationen sind:
- Polyposis-Syndrome (z.B. familiäre adenomatöse Polyposis, Peutz-Jeghers-Syndrom oder juveniles Polyposis-Syndrom)
- Zöliakie
sowie einige andere Dünndarmerkrankungen.
Sehr gute Ergebnisse zeigt die Kapselendoskopie auch bei der Untersuchung von Kindern und Jugendlichen. Zugelassen ist sie für Kinder ab 2 Jahren.
Dickdarmkapselendoskopie
Die Europäische Gesellschaft für Gastroenterologische Endoskopie (ESGE) empfiehlt in ihrer Leitlinie von 2012 den Einsatz der Dickdarmkapselendoskopie bei Patienten, bei denen eine vollständige herkömmliche Dickdarmspiegelung nicht möglich war, sowie bei Patienten, bei denen ein erhöhtes Risiko für Blutungen, Darmverletzungen oder bei der Anwendung von Beruhigungs- bzw. Betäubungsmitteln vorliegt.
In Japan ist die Untersuchung mit der Kolonkapsel ab 2014 in allen Indikationsbereichen zugelassen, wenn Patienten nicht in der Lage oder nicht bereit sind, sich herkömmlich koloskopieren zu lassen.
Vor-und Nachteile
Vorteile
- Durch die Kapselendoskopie entfällt eine instrumentelle Untersuchung im Intimbereich. Das trägt dem Schamgefühl vieler Menschen Rechnung.
- Die Kamerakapsel ist ein steril verpackter Einmalartikel, der nach der Untersuchung verworfen wird. Es besteht kein Hygiene- oder Infektionsrisiko.
- Die Videos der Kapseluntersuchung werden archiviert und stehen für fachärztliche Zweitbefundungen/Zweitmeinungen und für Verlaufskontrollen zur Verfügung.
- Als besonders patientenfreundliches Verfahren hat die Kaspselendoskopie das Potenzial, die Bereitschaft zur Teilnahme an der Darmkrebsvorsorgeuntersuchung zu erhöhen, was 2009 in einer deutschen Vorsorgestudie gezeigt werden konnte.
Nachteile
- Es gibt methodenspezifische Einschränkungen: So können etwaige Polypen im Gegensatz zur Koloskopie nicht sofort abgetragen und keine Biopsien entnommen werden. Die Kapselendoskopie ist daher kein vollwertiger Ersatz der herkömmlichen Endoskopie.
Kontraindikationen
Die wichtigste Kontraindikation für die Kapselendoskopie ist eine bekannte oder vermutete Stenosen im Verdauungstrakt - sie kann die Kapselpassage behindern.
Soll trotz einer möglichen Engstelle im Darm eine Kapselendoskopie durchgeführt werden, kann die Durchgängigkeit des Darmes für die Kamerakapsel mit einer Testkapsel (sog. Patency-Kapsel) überprüft werden. Sie ist in Form und Größe mit der Dünndarm-Kamerakapsel identisch. Würde diese den Magen-Darmkanal nicht passieren können, würde sie sich nach etwa 30 Stunden Verweilzeit im Darm in Einzelteile auflösen, die so klein sind, dass sie auch etwaige Engstellen problemlos passieren würden. Das Ausscheiden der intakten Kapsel hingegen zeigt die Durchgängigkeit des Darmes und die Möglichkeit der Durchführung einer Kapselendoskopie an. Weitere Kontraindikationen sind:
- Schluckstörungen
- Schwangerschaft
- Gleichzeitige Durchführung einer Kernspintomografie (MRT).
Vergleich mit anderen Methoden
Dünndarmdiagnostik
Der Dünndarm kann auch mit der sogenannten Ballonenteroskopie untersucht werden. Hiermit sind diagnostische und therapeutische Maßnahmen auch in tieferen Dünndarmabschnitten (die mit normalen Endoskopen nicht erreicht werden können) möglich. Diese Methode ist jedoch sehr zeitaufwändig und kann für den Patienten sehr belastend sein. Deshalb wird in der Regel im Vorfeld zu dieser Untersuchung kapselendoskopisch geklärt, ob eine Ballonenteroskopie überhaupt nötig ist, und auf welchem Weg (oral oder rektal) die Untersuchung stattfinden sollte.
Im Vergleich mit radiologischen Verfahren (Doppelkontrastuntersuchung, Computertomografie, Magnetresonanztomografie) zeigt die Kapselendoskopie eine höhere Sensitivität für Veränderungen an der Dünndarmschleimhaut, weshalb die radiologischen Verfahren zur Dünndarmuntersuchung - wie auch die Ultraschalluntersuchung des Dünndarmes - nur seltenen Fällen zum Einsatz kommen.
Dickdarmdiagnostik
Die Standarduntersuchung bei möglicher, vermuteter oder gar wahrscheinlicher Dickdarmerkrankung ist die konventionelle Koloskopie. Weitere, weniger sensitive Methoden sind die Sonografie und die mit Hilfe des CT oder MRT erstellte virtuelle Koloskopie. Zur Früherkennung von Darmkrebs werden auch Stuhl- und Bluttests mit unterschiedlicher Sensitivität (z.B. iFOBT) eingesetzt.
Erstattungssituation
Dünndarmkapselendoskopie
Die Kosten einer Dünndarmkapselendoskopie werden bei stationären Krankenhauspatienten über das DRG-System abgerechnet. Im ambulanten Bereich übernehmen private Krankenkassen seit 2005 die Untersuchungskosten für die Abklärung von unklaren Blutungen aus dem Magen-Darm-Kanal. Bei anderen Indikationen muss ein Einzelantrag bei der Kasse gestellt werden, den diese jedoch bei medizinisch gerechtfertigtem Einsatz in der Regel bewilligen. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Untersuchungskosten seit 2011 zur Suche nach Blutungsquellen im Dünndarm und zur Abklärung einer Eisenmangelanämie.
Dickdarmkapselendoskopie
Auch die Kosten für die Dickdarmkapselendoskopie werden bei stationären Krankenhauspatienten über das DRG-System erstattet. Im ambulanten Einsatz gibt es noch keine einheitliche Regelung bei den privaten Krankenversicherungen. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten auch in medizinisch begründeten Fällen nur ausnahmsweise.
Die Dickdarmkapselendoskopie hat in der Diagnostik von Dickdarmerkrankungen in Einzelfällen jedoch schon einen begründeten Stellenwert. So konnte z.B. gezeigt werden, dass mit ihr die Akzeptanz der Darmkrebsvorsorgeuntersuchung in der Bevölkerung um ein Mehrfaches gesteigert werden kann. Vielen, die einer herkömmlichen Darmspiegelung ablehnend gegenüber stehen, kann mit der Kapselkoloskopie eine hygienisch unproblematische, schmerzfreie und besonders risikoarme Alternative zur herkömmlichen Koloskopie angeboten werden. Auch ermöglicht eine herkömmliche Darmspiegelung aus verschiedensten Gründen nicht immer die Darstellung des gesamten Kolons. Hier ist die Kapselkoloskopie in der Lage, die fehlenden Abschnitte zu visualisieren, und ist dann sensitiver in der Erkennung krankhafter Veränderungen als die virtuelle Koloskopie.