Internetabhängigkeit
Synonyme: Internetsucht, Onlinesucht, pathologische Internetnutzung
Englisch: internet addiction, internet addiction disorder, online addiction
Definition
Als Internetabhängigkeit bezeichnet man eine zwanghafte, exzessive und schwer kontrollierbare Nutzung von Online-Inhalten. Betroffene verbringen soviel Zeit online, dass es zu einer Beeinträchtigung von Schule, Studium, Arbeit, sozialen Beziehungen und/oder oder Gesundheit kommt.
Klassifikation
Die Internetabhängigkeit zählt zu den verhaltensbezogenen Abhängigkeiten (nicht-substanzgebundene Süchte) und weist Parallelen zu klassischen Suchtmechanismen auf, etwa Kontrollverlust, Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen.
Bislang (2025) gibt es für die Internetabhängigkeit keine eigenständige Diagnose in den gängigen Klassifikationssystemen. Zumindest das pathologische Online-Spielverhalten ("Gaming Disorder") ist jedoch in der ICD-11 als offizielle Diagnose anerkannt. Andere Ausprägungen – etwa exzessive Nutzung sozialer Netzwerke oder exzessives Online-Shopping – werden derzeit überwiegend als Unterformen oder analoge Störungsbilder diskutiert.
Erscheinungsformen
In der Forschung werden verschiedene Subtypen unterschieden, die sich nach der dominanten Online-Aktivität gliedern lassen:
- Online-Gaming-Sucht (Computerspielabhängigkeit)
- Social-Media-Sucht
- Cybersex- oder Pornosucht
- Information-Seeking Addiction ("Surfzwang")
- Online-Kaufsucht oder -Glücksspielsucht
Diese Einteilung verdeutlicht, dass nicht das Medium Internet selbst, sondern die jeweilige Nutzungshandlung das Suchtpotenzial bestimmt.
Epidemiologie
Die Prävalenzschätzungen variieren je nach Altersgruppe und Definition erheblich. In Deutschland wird von etwa 1–3 % Betroffenen in der Allgemeinbevölkerung ausgegangen. Besonders gefährdet sind Jugendliche und junge Erwachsene, bei denen problematische Nutzungsformen deutlich häufiger vorkommen. Studien zeigen, dass bis zu 13 % dieser Altersgruppe Anzeichen einer riskanten oder manifesten Internetabhängigkeit aufweisen.
Ätiologie
Die Entstehung der Internetabhängigkeit ist multifaktoriell bedingt. Neurobiologische Mechanismen der Belohnung und Impulskontrolle spielen ebenso eine Rolle wie psychische, soziale und technische Einflussfaktoren. Komorbiditäten wie Depressionen, Angststörungen oder ADHS erhöhen das Risiko erheblich. Auch bestimmte Gestaltungsprinzipien digitaler Anwendungen – etwa variable Belohnungssysteme, soziale Rückmeldungen oder algorithmisch verstärkte Reize – fördern die Ausbildung süchtiger Nutzungsmuster.
Psychosoziale Risikofaktoren sind mangelnde soziale Integration, geringe Selbstwirksamkeit, familiäre Konflikte und Stressbelastung. Bei Jugendlichen kann zudem ein defizitäres Selbstwertgefühl oder der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit im digitalen Raum eine zentrale Rolle spielen.
Diagnostik
Da keine einheitlichen diagnostischen Leitlinien existieren, orientiert sich die Diagnostik häufig an klassischen Suchtkriterien. Zu den Leitsymptomen zählen:
- Kontrollverlust über Beginn, Dauer und Häufigkeit der Nutzung
- Vernachlässigung sozialer, beruflicher oder schulischer Verpflichtungen
- Entzugsähnliche Symptome (innere Unruhe, Gereiztheit bei Nichtverfügbarkeit)
- Toleranzentwicklung mit zunehmender Nutzungsdauer
- Fortführung trotz negativer Folgen
Zur standardisierten Erfassung werden Fragebögen wie der Internet Addiction Test (IAT) oder die Compulsive Internet Use Scale (CIUS) eingesetzt. Wichtig ist die Abgrenzung gegenüber anderen psychischen Störungen, insbesondere Zwangsstörungen, depressiven Episoden und Impulskontrollstörungen.
Symptomatik
Betroffene berichten häufig über ein anhaltendes Bedürfnis, online zu sein, begleitet von Vernachlässigung realer sozialer Kontakte und Interessen. Typische Begleiterscheinungen sind Schlafmangel, Leistungsabfall, Gereiztheit und Rückzugstendenzen. In schweren Fällen kann es zu sozialer Isolation, Partnerschaftsproblemen oder Schul- und Arbeitsabbrüchen kommen.
Verlauf und Prognose
Der Verlauf ist variabel und reicht von vorübergehenden Phasen über chronische Verläufe bis hin zu vollständiger Remission. Eine günstige Prognose besteht bei früher Intervention, stabilen sozialen Strukturen und begleitender Therapie komorbider Störungen. Ohne Behandlung kann die Störung persistieren und sekundäre psychische oder körperliche Folgeprobleme nach sich ziehen.
Therapie
Die Behandlung orientiert sich in der Regel an verhaltenstherapeutischen Konzepten. Ziel ist nicht vollständige Abstinenz, sondern ein kontrollierter und funktionaler Umgang mit digitalen Medien. Zu den zentralen therapeutischen Maßnahmen zählen:
- Psychoedukation und Medienkompetenztraining
- Aufbau alternativer Freizeitaktivitäten
- Selbstkontroll- und Zeitmanagementtechniken
- Kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Überzeugungen („Ich muss ständig erreichbar sein“)
- Einbindung von Familie oder Partnern
- Behandlung komorbider Störungen
In spezialisierten Einrichtungen werden auch gruppentherapeutische Ansätze und multimodale Behandlungsprogramme angeboten.
Gesellschaftliche Bedeutung
Mit der zunehmenden Digitalisierung des Alltags gewinnt die Thematik weiter an Relevanz. Der Übergang zwischen normaler und pathologischer Nutzung ist fließend, was Diagnostik und Prävention erschwert. Angesichts der steigenden Bildschirmzeit in allen Altersgruppen gilt die Internetabhängigkeit als wachsende Herausforderung für das Gesundheitswesen.
Literatur
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