Schubunabhängige Progression
Synonym: schubunabhängige Progression ohne Krankheitsaktivität
Englisch: progression independent of relapse activity, PIRA
Definition
Als schubunabhängige Progression bezeichnet man eine Zunahme der Behinderung bei Multipler Sklerose, die nicht im zeitlichen Zusammenhang mit einem Schub steht. Eine solche Progression kann schon in frühen Krankheitsphasen auftreten und trägt wesentlich dazu bei, dass sich Patienten auch zwischen den Krankheitsschüben verschlechtern.[1]
Nomenklatur
Das englische Äquivalent ist "progression independent of relapse activity". Die Abkürzung PIRA wird häufig auch in der deutschsprachigen Literatur verwendet.
Epidemiologie
Nach einem ersten demyelinisierenden Ereignis entwickeln etwa 8 % der Patienten nach 5 Jahren, ca. 25 % nach 12 Jahren und rund 50 % nach 22 Jahren ein erstes PIRA-Ereignis. Ein höheres Alter beim ersten Ereignis erhöht das Risiko deutlich.[2]
Pathophysiologie
Die zugrundeliegenden Mechanismen sind komplex und bisher (2025) nicht vollständig verstanden. Im Gegensatz zu Schüben treten keine plötzlichen entzündlichen Ereignisse auf. Stattdessen entwickeln sich Veränderungen langsam über Jahre und bleiben mit gängigen klinischen und bildgebenden Methoden lange Zeit schwer erfassbar.
Dabei spielen verschiedene Prozesse eine Rolle:
| Prozess | Beschreibung |
|---|---|
| Chronisch aktive Läsionen | Alte Läsionen behalten eine über Jahre aktive Randzone, im MRT sichtbar als paramagnetische Randläsion. Sie wachsen langsam weiter, verursachen anhaltenden Axonverlust und treten bei PIRA häufiger auf.[3] |
| Kortikale Läsionen | In der Hirnrinde entstehen Läsionen in räumlicher Nähe zu Aggregaten von B- und T-Lymphozyten in den Meningen, sogenannten ektopen lymphoiden Strukturen. Sie führen zu einem fortschreitenden Substanzverlust der Hirnrinde, der im Standard-MRT oft nicht erfasst wird.[4] |
| Hirnatrophie | Der Verlust an kortikaler grauer Substanz beträgt bei PIRA etwa 0,7 % pro Jahr, deutlich höher als bei stabilen MS-Verläufen mit einem Verlust 0,3–0,4 % pro Jahr oder Gesunden mit 0,1–0,3 % pro Jahr.[5] |
| Rückenmarksatrophie | Die Querschnittsfläche im zervikalen Rückenmark nimmt bei PIRA mit 1,2–1,4 % pro Jahr ab, wohingegen bei stabilen Verläufen nur um 0,3–0,4 %. Kleinere Ausgangsvolumina gehen mit einem früheren Auftreten von PIRA einher.[3] |
| Netzwerkstörung | Axonschäden breiten sich entlang von Faserbahnen aus, stören neuronale Netzwerke und verstärken somit den Funktionsverlust über das ursprüngliche Läsionsareal hinaus. |
| Stumme Entzündungsaktivität | Manche PIRA-Ereignisse treten in Zeiträumen mit neuen MRT-Läsionen auf. Der PIRA-Prozess ist daher nicht rein degenerativ, sondern kann auch durch entzündliche Aktivität beeinflusst werden, ohne dass ein Schub erkennbar ist.[6] |
Symptome
Die Symptome entwickeln sich schleichend und ohne akute Verschlechterung. Typisch sind zunehmende Gehbehinderung, Einschränkungen der Handfunktion und kognitive Defizite.
Diagnostik
PIRA wird in der Regel anhand des Expanded Disability Status Scale (EDSS) erfasst. Entscheidend ist eine dauerhafte Zunahme des EDSS, die nicht durch einen Schub erklärt werden kann.
Als EDSS-Schwelle für signifikante Verschlecherung gilt:
- + 1,5 Punkten bei EDSS 0
- + 1,0 Punkt bei EDSS 1,0–5,5
- + 0,5 Punkten ab EDSS ≥ 6,0
Eine PIRA liegt vor, wenn alle folgenden Kriterien erfüllt sind:[7]
- Gesicherte EDSS-Verschlechterung gegenüber einem Referenzwert
- Zwischen der letzten EDSS-Messung (die als Referenz dient) und der beobachteten Verschlechterung darf kein klinischer Schub auftreten
- Die Verschlechterung bleibt durchgehend über der Schwelle für eine signifikante EDSS-Verschlechterung während einer Bestätigungsperiode von ≥ 12 Monaten
- Für die Bestätigung werden nur EDSS-Messungen verwendet, die > 30 Tage nach einem Schub erhoben wurden
Der Referenzwert wird jedes Mal neu gesetzt: nach einer PIRA-Verschlechterung, nach einem klinischen Schub und nach einer dokumentierten EDSS-Verbesserung.
Ergänzende Tests wie der Timed-25-Foot-Walk (T25FW), der 9-Hole-Peg-Test (9HPT) und der Symbol-Digit-Modalities-Test (SDMT) können zusätzliche Einschränkungen aufdecken und die Sensitivität erhöhen.
Differentialdiagnosen
- Behinderungszunahme im Rahmen eines Schubs
- Pseudoverschlechterung: Vorübergehende Verschlechterung bei Infekten oder Hitze (Uhthoff-Phänomen)
- Neurologische Verschlechterung durch Komorbiditäten, etwa Schlaganfall oder degenerative Erkrankungen
- Medikamenten- oder therapiebedingte Nebenwirkungen
Therapie
PIRA spricht nur begrenzt auf klassische Therapien bei MS an. Frühe Einleitung und längere Exposition mit entsprechenden Medikamenten könnten das PIRA-Risiko reduzieren, ohne es vollständig zu verhindern. BTK-Inhibitoren (z.B. Tolebrutinib) werden als progressionsgerichtete Optionen untersucht.[8]
Prognose
PIRA ist ein wesentlicher Treiber der bleibenden Behinderung bei Multipler Sklerose. Frühe PIRA-Ereignisse im Krankheitsverlauf gehen mit einem schnelleren Erreichen höherer EDSS-Stufen einher. So verdoppelt sich etwa das Risiko, EDSS 6,0 (dauerhafte Gehhilfe) zu erreichen, wenn PIRA früh im Krankheitsverlauf auftritt.[2]
Langfristig ist PIRA stark mit dem Übergang in die sekundär progrediente MS (SPMS) assoziiert.[9]
Quellen
- ↑ Müller, Harmonizing Definitions for Progression Independent of Relapse Activity in Multiple Sclerosis: A Systematic Review, JAMA Neurology, 2023
- ↑ 2,0 2,1 Tur, Association of Early Progression-Independent of Relapse Activity With Long-term Disability After a First Demyelinating Event in Multiple Sclerosis, JAMA Neurology, 2023
- ↑ 3,0 3,1 Cagol, Association of Spinal Cord Atrophy and Brain Paramagnetic Rim Lesions With Progression Independent of Relapse Activity in People With MS, Neurology, 2024
- ↑ Ransohoff, Multiple sclerosis: role of meningeal lymphoid aggregates in progression independent of relapse activity, Trends in Immunology, 2023
- ↑ Cagol, Association of Brain Atrophy With Disease Progression Independent of Relapse Activity in Patients With Relapsing Multiple Sclerosis, JAMA Neurology, 2022
- ↑ Ciccarelli, Using the Progression Independent of Relapse Activity Framework to Unveil the Pathobiological Foundations of Multiple Sclerosis, Neurology, 2024
- ↑ Müller et al., Standardized definition of progression independent of relapse activity (PIRA) in relapsing-remitting multiple sclerosis, JAMA Neurology, 2025
- ↑ Naydovich, Beyond relapses: How BTK inhibitors are shaping the future of progressive MS treatment, Neurotherapeutics, 2025
- ↑ Zhu et al., Persistent progression independent of relapse activity in multiple sclerosis, Brain Communications, 2025