Retard
Definition
Unter dem Begriff Retard ist eine spezielle Arzneiform zu verstehen, aus der nach Einnahme der Wirkstoff langsam freigesetzt wird. Somit wird eine gleichmäßige Versorgung mit der therapeutisch wirksamen Substanz über einen bestimmten Zeitraum gewährleistet. Eine funktionelle Ähnlichkeit besteht zu den Depotarzneimitteln; die Bezeichnung Retard bezieht sich allerdings vornehmlich auf oral zu verabreichende Medikamente.
Grundlagen
Damit ein Wirkstoff für die Verabreichung als Retardform geeignet ist, muss er einige Kriterien erfüllen:
- Die therapeutische Breite darf nicht zu eng sein, da kleine Schwankungen des Wirkstoffspiegels nicht ausgeschlossen werden können.
- Eine Halbwertszeit zwischen 2 und 10 Stunden: Ist die Halbwertszeit zu kurz, wäre die Gesamtdosis einer Arzneiform zu groß (u.U. bis 1 g). Ist die Halbwertszeit zu lang, benötigt der Wirkstoff keine Retardierung mehr, da er von sich aus langsam genug anflutet.
- gute Resorbierbarkeit: Nur wenn der Arzneistoff rasch resorbiert wird, kann die Wirkstofffreisetzung aus der Arzneiform den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt darstellen.
- ausreichende Wasserlöslichkeit im Darm, da nur so eine gute Resorption stattfinden kann.
Für den Prozess der Freisetzung sollten folgende Punkte gelten:
- Der Arzneistoff sollte vorzugsweise mit einer Kinetik nullter Ordnung, also linear, freigesetzt werden, da so gut ein steady state erreicht werden kann. Im Einzelfall kann es hiervon jedoch Abweichungen geben.
- Die Arzneistofffreigabe sollte von äußeren Einflüssen unabhängig sein. Äußere Einflüsse können der pH-Wert oder der Magenfüllungszustand sein.
Vorteile
Retardarzneiformen können durch die einmal tägliche Gabe die Compliance stark erhöhen. Das Dosierungsintervall wird länger und der prozentuale Swing verringert sich.
Nachteile
Nachteile liegen in der niedrigeren Bioverfügbarkeit als bei rasch zerfallenden Formen, einem möglichen dose dumping, bei welchem unbeabsichtigt der ganze Wirksotff auf einmal freigesetzt wird, und den hohen Entwicklungskosten.
Einteilung
...nach Produktionsart
- Herstellung einer Tablette mit einem speziellen Überzug, der gegen das saure Milieu des Magens resistent ist. Somit wird eine schlagartige Freisetzung des Wirkstoffs durch rasche Zersetzung der Tablette verhindert. Im Darm wird die Hülle aufgelöst und der Arzneistoff freigesetzt; es handelt sich hierbei um eine verzögerte Freisetzung.
- Produktion von Retardkapseln, in denen sich kleine Wirkstoffpellets oder –granulate befinden, die ihrerseits mit einem Retardüberzug überzogen sind.
- Orales osmotisches System
- Verpackung des Wirkstoffes in eine langsam erodierende Hülle
nach Geschwindigkeit der Wirkstofffreisetzung
- Wirkstofffreisetzung mit konstanter Geschwindigkeit
- Wirkstofffreisetzung mit abnehmender Geschwindigkeit
- verzögerte Freisetzung
...nach Arzneistofffreigabe
Diffusionsgesteuerte Arzneistofffreigabe
Das Prinzip der diffusionsgesteuerten Freigabe ist in der Matrixtablette verwirklicht. Die Freigabe aus diesen Arzneiformen erfolgt über passive Diffusion. Der Arzneistoff ist in einer Grundlage dispergiert, die nicht im Magen-Darm-Trakt löslich ist (z.B. Eudragit NE). Der Arzneistoff diffundiert während der Magen-Darm-Passage durch die Arzneiform und wird in die umgebende Flüssigkeit freigesetzt.
Die Freigabe erfolgt nach einer Wurzelkinetik, die durch die Higuchi-Gleichung beschrieben wird. In einer Näherung kann davon ausgegangen werden, dass die Freisetzung des ersten Drittels der Arzneistoffmenge nach einer Kinetik 0. Ordnung und somit konstant stattfindet.
Diffusionsgesteuerte Freigabe
Die diffusionsgesteuerte Freigabe findet sich bei Tabletten mit einem nicht löslichen Retardüberzug (z.B. Eudragit RL). Die Freisetzung erfolgt über passive Diffusion durch die Hülle.
Das Polymer ist quellbar. Wasser dringt in die Tablette ein und löst den Arzneistoff im Kern (Reservoir), sodass dort eine gesättigte Lösung entsteht. Durch die Hülle diffundiert der Arzneistoff nach außen.
Wenn im Kern eine gesättigte Lösung vorliegt, erfolgt die Arzneistofffreisetzung nach einer Kinetik 0. Ordnung. Ist jedoch der Großteil des Arzneistoffes freigegeben, sodass keine gesättigte Lösung mehr vorleigt, erfolgt die Freisetzung nach einer Kinetik 1. Ordnung.
Osmosegesteuerte Arzneistofffreisetzung
Die osmosegesteurte Arzneistofffreisetzung ist im oralen osmotischen System verwirklicht. Es handelt sich um eine Tablette, welche neben dem Wirkstoff ein Osmogen enthält. Wasser geht in die Tablette über, löst das Osmogen und drückt den Wirkstoff aufgrund des osmotischen Drucks durch ein Loch in der Tablettenwand heraus.
Die Freisetzung erfolgt über den gesamten Dosisbereich nach einer Kinetik 0. Ordnung.
Gastroretentive Formen
Nicht nur durch Modifikation der Arzneistofffreisetzung im Darm kann eine Retardierung erzielt werden, sondern auch durch eine Erhöhung der Magenverweilzeit. Hierfür wurden gastroretentive Arzneiformen entwickelt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um die Verweilzeit im Magen zu erhöhen:
- Schaumbildung: Die Tablette zerfällt im Magensaft und bildet einen Schaum, der den Arzneistoff enthält. Wegen seiner geringeren Dichte schwimmt der Schaum auf der Oberfläche des Magensaftes und gelangt deshalb nicht durch den Pylorus.
- Schwimmende Systeme: Wenn die Arzneiform eine geringere Dichte als Wasser hat, schwimmt sie an der Oberfläche des Magensaftes und kann den Magen deshalb nicht verlassen. Eine Verringerung der Dichte kann durch Quellung im Magen oder eine Brausewirkung erreicht werden, bei welcher Gasbläschen an der Tablettenoberfläche anhaften.
- Ausdehnbare Systeme (Schwimmtablette): Die Systeme werden in einer Hartkapsel geschluckt; im Magen löst sich die Kapsel und setzt das System frei. Es expandiert und kann den Pylorus aufgrund seiner Größe nicht durchqueren. Nachteil ist, dass man über eine längere Zeit einen Fremdkörper im Magen hat.
- Superporöse Gele
- Quellbare Systeme: Durch Quellung steigt das Volumen der Arzneiform, weshalb sie den Pylorus nicht mehr durchqueren kann.
Gastroretentive Systeme sind bis jetzt (2020) nur wenig auf dem Markt vertreten.
Anwendungsgebiete
Retard-Medikamente sind überall dort gefragt, wo ein konstanter Wirkstoffpegel notwendig ist und eventuelle Schwankungen gefährlich sein können. Dazu gehören v. a.:
- Hormonpräparate
- blutdrucksenkende Medikamente
- Analgetika
- Antikonvulsiva
um diese Funktion zu nutzen.