Neurotizismus
Definition
Neurotizismus ist eine grundlegende Persönlichkeitsdimension, welche die Tendenz beschreibt, negative Emotionen wie Angst, Ärger, Traurigkeit oder Schuldgefühle häufiger und intensiver zu erleben. Er zählt zu den Hauptdimensionen des Fünf-Faktoren-Modells (Big Five) der Persönlichkeit, neben Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.
Hintergrund
Der Begriff geht auf Hans J. Eysenck zurück, der Neurotizismus in seinem dreidimensionalen Persönlichkeitsmodell als Kontinuum zwischen emotionaler Stabilität und Instabilität beschrieb. Eysenck führte die Unterschiede auf physiologische Unterschiede im autonomen Nervensystem zurück, insbesondere auf eine erhöhte Aktivierbarkeit des limbischen Systems. Spätere Modelle, vor allem das Fünf-Faktoren-Modell nach Costa und McCrae (1992), konzeptualisierten Neurotizismus breiter als dispositionelle Anfälligkeit für negativen Affekt und Stressreaktionen, unabhängig von spezifischen neurophysiologischen Theorien.
Menschen mit hohen Neurotizismuswerten reagieren empfindlicher auf Stress, neigen zu Sorgen, Selbstzweifeln und Stimmungsschwankungen. Personen mit niedrigen Werten gelten als emotional stabil, ausgeglichen und widerstandsfähiger gegenüber Belastungen.
Merkmale
Nach der Operationalisierung des NEO Personality Inventory (NEO-PI-R) umfasst Neurotizismus sechs Facetten:
- Ängstlichkeit ("anxiety"): Tendenz zu Sorgen, Nervosität und Furcht.
- Feindseligkeit ("angry hostility"): Neigung zu Reizbarkeit und Ärger.
- Depressivität ("depression"): Häufiges Erleben von Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit.
- Selbstunsicherheit ("self-consciousness"): Soziale Hemmung und Schamempfindlichkeit.
- Impulsivität ("impulsiveness"): Schwierigkeit, Impulse oder Bedürfnisse zu kontrollieren.
- Verletzlichkeit ("vulnerability"): Geringe Stresstoleranz und Neigung zur Überforderung.
Diese Facetten beschreiben unterschiedliche Ausdrucksformen derselben Grundtendenz – einer erhöhten emotionalen Reagibilität auf Belastungssituationen.
Messung
Neurotizismus wird vorwiegend durch standardisierte Selbstauskunftsverfahren erfasst. Zu den am häufigsten eingesetzten Instrumenten zählen:
- NEO Personality Inventory-Revised (NEO-PI-R) und NEO Five-Factor Inventory (NEO-FFI) nach Costa & McCrae
- Eysenck Personality Questionnaire (EPQ)
- Big Five Inventory (BFI)
Diese Verfahren weisen gute Reliabilität und Validität auf. Die Skalen erfassen Neurotizismus als kontinuierliches Persönlichkeitsmerkmal und werden sowohl in der Forschung als auch in der klinischen Diagnostik verwendet.
Neurobiologie
Neurotizismus wird neurobiologisch mit einer erhöhten Reagibilität limbischer Strukturen, insbesondere der Amygdala und des anterioren cingulären Cortex, in Verbindung gebracht. Personen mit hohen Neurotizismuswerten zeigen häufig stärkere emotionale Reaktionen auf aversive Reize und eine gesteigerte Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) bei Stress.[1] Zwillings- und Familienstudien zeigen eine moderate Erblichkeit von etwa 40–50 %.[2]
Klinische Bedeutung
Neurotizismus gilt als stabiler Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen, insbesondere affektiver und Angststörungen. Menschen mit hohem Neurotizismus berichten häufiger psychosomatische Beschwerden und ein niedrigeres Wohlbefinden. Auch im Rahmen chronischer körperlicher Erkrankungen kann ein hoher Neurotizismuswert die Krankheitsverarbeitung, Therapieadhärenz und Lebensqualität negativ beeinflussen. Umgekehrt wird emotionale Stabilität mit höherer Resilienz und besserer Stressbewältigung assoziiert.
Literatur
- Costa und McCrae, Revised NEO Personality Inventory (NEO‑PI‑R) and NEO Five‑Factor Inventory (NEO‑FFI): Professional Manual, Psychological Assessment Resources, 1992
- Eysenck und Eysenck, Manual of the Eysenck Personality Questionnaire (junior and adult), Hodder and Stoughton, 1975
- Lahey, Public health significance of neuroticism, American Psychologist, 2009
- McCrae und John, An introduction to the five-factor model and its applications, Journal of Personality, 1992
Quellen
- ↑ Canli T. Toward a neurogenetic theory of neuroticism. Ann N Y Acad Sci. 2008;1129:153-174.
- ↑ Power, R. A., & Pluess, M. (2015). Heritability estimates of the Big Five personality traits based on common genetic variants. Translational Psychiatry, 5(7), e604.