Reye-Syndrom
nach dem australischen Pädiater Ralph Douglas Kenneth Reye (1912–1977)
Synonym: Reye-Morgan-Baral-Syndrom
Englisch: Reye's syndrome, white liver disease
Definition
Das Reye-Syndrom ist eine seltene, akute, potenziell lebensbedrohliche metabolische Enzephalopathie mit akuter Leberfunktionsstörung, die typischerweise 3–5 Tage nach einer viralen Infektion (v. a. des oberen Respirationstraktes oder Varizellen) und der Exposition gegenüber Salicylaten auftreten kann. Es handelt sich überwiegend um ein Krankheitsbild der Pädiatrie, Einzelfälle bei Erwachsenen sind jedoch beschrieben.
Ätiologie
Infektion mit Viren:
- Varizella-Zoster-Virus (VZV)
- Influenza A (z.B. H1N1)
- Influenza B
- Epstein-Barr-Virus
Intoxikationen durch:
- Salicylate wie z.B. ASS
Die Behandlung kindlicher viraler Infekte dem Antiphlogistikum ASS gilt als entscheidender Risikofaktor. Seit Einführung entsprechender Warnhinweise wird ASS bei Kindern und Jugendlichen nur noch bei strenger Indikationsstellung (z. B. Kawasaki-Syndrom) eingesetzt.
Epidemiologie
Durch konsequente Vermeidung von ASS ist das Reye-Syndrom heute extrem selten. Aktuelle Registerdaten aus den USA und Europa beschreiben eine Inzidenz von weniger als 0,1 Fälle pro 1 Mio. Kinder/Jahr in Industrienationen. Seit den 2000er‑Jahren sind nur noch sporadische Einzelfälle oder kleine Fallserien beschrieben.
Betroffen sind nahezu ausschließlich Kinder unter 15 Jahren, mit einem Häufigkeitsgipfel zwischen 4 und 8 Jahren. Ein Geschlechterunterschied besteht nicht.
Die Letalität liegt in aktuellen Reviews und Leitlinien (2025) bei ca. 20–30 %, abhängig vom Erkrankungsstadium bei Diagnosestellung und der Geschwindigkeit der intensivmedizinischen Therapie. Neurologische Residuen sind bei Überlebenden möglich.
Pathogenese
Das Reye-Syndrom beruht auf einer Fehlfunktion der Mitochondrien. In Leber, Skelettmuskel und Gehirn finden sich charakteristische Veränderungen der Mitochondrien (Verlust der Cristae). Aktuelle Erkenntnisse legen nahe, dass bei einem Teil der Patienten zugrunde liegende, bislang subklinische mitochondriale oder fettsäureoxidative Defekte bestehen, insbesondere Störungen der mitochondrialen β‑Oxidation (z. B. MCAD‑Mangel‑ähnliche Mechanismen).
Ferner finden sich in den Zellen der Leber eine vermehrte Anzahl von Peroxisomen.
Der Stoffwechsel der Mitochondrien ist beeinträchtigt:
- Die Carbamoylphosphat-Synthetase, ein wichtiges Enzym im Harnstoffzyklus weist eine verminderte Aktivität auf. Als Folge reichert sich das neurotoxische Ammoniak an.
- Die Pyruvatdehydrogenase und Enzyme der Atmungskette Cytochrom-Oxidase sind ebenfalls nicht voll funktionsfähig. Es findet vermehrt anaerober Stoffwechsel statt. Das dabei entstehende Laktat führt zur Azidose.
- Die Beta-Oxidation sistiert, es reichern sich langkettige Fettsäuren an.
Die Leber unterliegt einer fettigen Degeneration (Steatosis hepatis). Ammoniak reichert sich an und führt im Gehirn zur Ausbildung eines Ödems, das zum klinischen Bild der Enzephalopathie führt.
Klinik
Das Reye-Syndrom tritt in der Regel vor dem 10. Lebensjahr auf. Das Anfangsstadium des Reye-Syndroms ist gekennzeichnet durch:
- Emesis
- Somnolenz
- Lethargie
- ständiges Schreien
- Leberfunktionsstörung
Bei etwa einem Drittel der Patienten entwickelt sich in der Folge das enzephalopathische Vollbild des Reye-Syndroms:
- Hirnödem
- Hyperventilation
- Krämpfe
- Hyperreflexie mit folgender Areflexie
- Dezerebrationsstarre
- Koma
- Apnoe
Diagnose
- Anamnese
- Erhöhte Transaminasen
- Hypoglykämie
- Prothrombinmangel
- erhöhte Spiegel von Aminosäuren, freien Fettsäuren, Harnsäure und Phosphat
- Erhöhte Werte für Pankreas-Amylase, Creatinkinase, Laktatdehydrogenase
- Hyperammonämie (zentrales diagnostisches Merkmal)
- Bildgebung: Kranielles CT oder MRT (Nachweis eines diffusen Hirnödems)
- Weitere Diagnostik: Ausschluss angeborener Stoffwechseldefekte mittels erweiterten Stoffwechselscreenings
Differentialdiagnose
Differentialdiagnostisch sind in Betracht zu ziehen:
- Intoxikation mit Aflatoxin, Alakaloiden und anderen Drogen
- Schock
- Meningitis
- Nierenversagen
- Diabetes mellitus
- angeborene Stoffwechseldefekte der Mitochondrien
Therapie
Die Therapie ist intensivmedizinisch symptomatisch und supportiv. Kausale Therapiekonzepte sind nicht vorhanden.
Der Patient wird intubiert und sediert (Barbiturate). Der Hirndruck muss invasiv überwacht werden, zur Verminderung können osmotische Diuretika wie z.B. Mannitol dienen. Die Hyperammoniämie kann mittels Peritonealdialyse behandelt werden.
Das Vollbild des Reye-Syndroms führt in über drei Vierteln der Fälle zum Tod. Eine früh einsetzende Therapie im Anfangsstadium der Erkrankung kann diese hohe Mortalität deutlich vermindern.