Stewart-Modell
Synonym: Säure-Base-Modell nach Stewart
Definition
Das Stewart-Modell ist ein quantitativer, physikochemischer Ansatz zur Interpretation des Säure-Basen-Haushalts, der in den 1980er-Jahren vom kanadischen Physiologen Peter Stewart entwickelt wurde. Er beruht auf dem Prinzip, dass sich pH-Wert, Wasserstoffionenkonzentration und Bikarbonatkonzentration nicht unabhängig voneinander verändern, sondern vollständig von anderen, sogenannten „unabhängigen Variablen“ bestimmt werden.
Hintergrund
Die klassische Betrachtungsweise des Säure-Basen-Haushalts beruht im Wesentlichen auf der Henderson-Hasselbalch-Gleichung, bei welcher der pH-Wert als Funktion von Bikarbonat und pCO₂ verstanden wird. Daraus ergeben sich Begriffe wie der Base Excess oder die Anionenlücke, mit deren Hilfe Störungen klassifiziert werden. Peter Stewart stellte diese Herangehensweise infrage und entwickelte einen streng physikalisch-chemischen Ansatz, der sich auf die elektrischen Ladungsverhältnisse und Dissoziationsgleichgewichte in Körperflüssigkeiten stützt. Dieses Modell stellt damit einen Paradigmenwechsel gegenüber der klassischen Hendersen-Hasselbalch-basierten Betrachtung dar und wird insbesondere in der Intensivmedizin diskutiert und zunehmend angewandt.
Grundprinzipien
Das Stewart-Modell fußt auf drei physikalisch-chemischen Grundgesetzen, die in jeder biologischen Lösung gelten müssen:
- Prinzip der Elektroneutralität: in jeder Lösung muss die Summe aller positiven Ladungen der Summe aller negativen Ladungen entsprechen. Diese Bedingung ist zentral für die Ableitungen des Stewart-Modells
- Erhaltung der Masse: die Gesamtmenge jeder chemischen Substanz in der Lösung bleibt erhalten, auch wenn sie teilweise dissoziiert vorliegt
- Gleichgewicht von Dissoziationen: die Dissoziation schwacher Säuren und Basen folgt dem Massenwirkungsgesetz
Diese Prinzipien ermöglichen es, ein mathematisches Gleichungssystem aufzustellen, das den Säure-Basen-Status einer Lösung vollständig beschreibt. Stewart zeigte, dass sich daraus drei unabhängige Variablen ergeben, von denen alle weiteren Veränderungen ableitbar sind.
Unabhängige Variablen
Laut Stewart existieren genau drei unabhängige Variablen, die den Säure-Basen-Haushalt bestimmen:
Kohlendioxidpartialdruck (pCO₂)
Der Einfluss von pCO₂ auf den pH-Wert ist unstrittig und auch Bestandteil der "klassischen Lehre". Ein Anstieg des pCO₂ führt zu einem Absinken des pH-Werts (respiratorische Azidose), eine Absenkung zu einer Alkalose. Dieser Zusammenhang wird durch die Hendersen-Hasselbalch-Gleichung korrekt wiedergegeben und wird auch im Stewart-Modell beibehalten.
Gesamtkonzentration nichtflüchtiger schwacher Säuren (A⁻)
Als schwache Säuren gelten in biologischen Flüssigkeiten insbesondere Albumin und anorganisches Phosphat. Ihre Fähigkeit, Protonen zu binden oder abzugeben, beeinflusst das Gleichgewicht zwischen freien Wasserstoffionen und Bikarbonat. Die Konzentration dieser schwachen Säuren kann über folgende Gleichung abgeschätzt werden:
Diese Variable wurde von Stewart ursprünglich als ATOT (total concentration of nonvolatile weak acids) bezeichnet.
Differenz starker Ionen (SID)
Die SID (strong ion difference) beschreibt die Differenz zwischen den Konzentrationen vollständig dissoziierter starker Kationen und Anionen.
Eine reduzierte SID führt zu einer Akkumulation freier H⁺-Ionen (Azidose), eine erhöhte SID zu deren Verminderung (Alkalose).
Abhängige Variablen
Im Gegensatz zur klassischen Lehre betrachtet Stewart pH, H⁺ und HCO₃⁻ als abhängige Größen. Sie werden vollständig durch die drei unabhängigen Variablen bestimmt. Eine Veränderung des pH-Wertes kann daher nur stattfinden, wenn sich mindestens eine dieser unabhängigen Variablen ändert.
Eine Bikarbonatinfusion führt beispielsweise nicht deshalb zu einer Alkalose, weil zusätzliches HCO₃⁻ verabreicht wird, sondern weil das enthaltene Natriumion (Na⁺) die SID erhöht. Das ansteigende Bikarbonat ist somit nicht die Ursache, sondern der Ausdruck der zugrunde liegenden Veränderung im elektrochemischen Gleichgewicht.
Interpretation
Die Anwendung des Stewart-Modells erlaubt es, komplexe oder überlagerte Störungen besser zu verstehen und zu identifizieren. Ein klassisches Beispiel ist die sogenannte hyperchlorämische Azidose. Wird einem Patienten eine große Menge 0,9 %iger NaCl-Lösung infundiert, steigt die Chloridkonzentration stark an. Dies senkt die SID, was zu einer metabolischen Azidose führt – obwohl der pH-Wert (z.B. durch eine gleichzeitige hypoalbuminämische Alkalose) scheinbar normal bleiben kann. Das Stewart-Modell erkennt in solchen Fällen zwei entgegengesetzte Störungen, wo die klassische Lehre fälschlich von einem Normalbefund ausgehen würde.
Ein weiteres Beispiel ist die hypoalbuminämische Alkalose: Ein Absinken des Albumins (z.B. durch Verdünnung bei einer Infusionstherapie) verringert die Konzentration schwacher Säuren und führt so zu einem pH-Anstieg, unabhängig von pCO₂ oder Bikarbonat.
Trotz seiner logischen Konsistenz und physikalischen Fundierung ist das Stewart-Modell nicht unumstritten. Kritiker bemängeln die mathematische Komplexität, den fraglichen klinischen Nutzen und die teils schwierige praktische Umsetzung. Zudem sind die Messungen der Elektrolytkonzentrationen mit gewissen Ungenauigkeiten behaftet, was die Berechnung der SID erschweren kann.
Befürworter hingegen heben hervor, dass das Modell gerade bei Intensivpatienten „versteckte“ Störungen sichtbar machen kann, die in der klassischen Lehre übersehen werden.
Literatur
- Rehm et al. Das Stewart-Modell – „Moderner“ Ansatz zur Interpretation des Säure-Basen-Haushalts. Der Anaesthesist. 2004;53:347–357. DOI:10.1007/s00101-004-0660-x
- Stewart. How to Understand Acid-Base: A Quantitative Acid-Base Primer for Biology and Medicine. Elsevier; 1981.
- Stewart. Modern quantitative acid-base chemistry. Can J Physiol Pharmacol. 1983;61(12):1444–1461.