Strong Ion Difference
Definition
Die Strong Ion Difference, kurz SID, ist ein zentrales Konzept des Stewart-Modells zur Interpretation des Säure-Basen-Gleichgewichts. Sie beschreibt den quantitativen Unterschied zwischen der Summe vollständig dissoziierter starker Kationen und Anionen in einer Lösung. Veränderungen der SID beeinflussen den pH-Wert direkt, da der Organismus stets eine Elektroneutralität anstrebt.
Hintergrund
Die klassische Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschreibt den Zusammenhang zwischen pH, HCO₃⁻ und pCO₂. Peter Stewart stellte dieses Konzept infrage und entwickelte in den 1980er Jahren ein streng physikochemisches Modell, das auf drei Grundprinzipien beruht:
- Elektroneutralität: die Summe aller positiven und negativen Ladungen muss übereinstimmen
- Erhaltung der Masse: chemische Substanzen bleiben mengenmäßig konstant
- Dissoziationsgleichgewicht: folgt dem Massenwirkungsgesetz
Aus diesen Bedingungen leitete Stewart drei unabhängige Variablen ab, die den Säure-Basen-Status bestimmen:
- Kohlendioxidpartialdruck (pCO₂)
- Strong Ion Difference (SID)
- Gesamtkonzentration nichtflüchtiger schwacher Säuren (A⁻), z.B. Albumin und Phosphat
pH, H⁺ und HCO₃– sind in diesem Modell abhängige Variablen, die vollständig von diesen drei Größen bestimmt werden.
siehe auch: Stewart-Modell
Berechnung
Die SID ergibt sich aus der Differenz zwischen der Summe vollständig dissoziierter starker Kationen und Anionen in einer Lösung.
Zur Berechnung werden in der Regel die Kationen- und Anionenkonzentrationen der relevantesten Elektrolyte in mmol/l verwendet. Da sich Laktat aufgrund seiner nahezu vollständigen Dissoziation im Plasma- und Extrazellularraum wie ein starkes Anion verhält, wird es in die Berechnung mit einbezogen:
Der Normwert liegt unter physiologischen Bedingungen (pH = 7,4, Temperatur = 37 °C, pCO₂ = 40 mmHg) bei etwa 42 mmol/l.
In der klinischen Praxis wird zudem häufig die bettseitig anwendbare "apparente SID" (SIDa) genutzt:
Beispiele
Ein Chloridmangel (z.B. durch Erbrechen) erhöht die SID und verschiebt das Säure-Basen-Gleichgewicht in Richtung Alkalose. Die Niere resorbiert dabei vermehrt HCO₃–, um die Elektroneutralität aufrechtzuerhalten.
Ein Chloridüberschuss (z.B. nach Infusion von 0,9 % NaCl-Lösung) senkt die SID, weil die erhöhte Anionenzahl eine Abnahme der Bikarbonatkonzentration erfordert. Es entsteht eine metabolische Azidose.
Im klinischen Alltag ist die Korrektur von Volumen- und Elektrolytstörungen – insbesondere von Kalium und Chlorid – entscheidend, um Säure-Basen-Störungen zu beheben. Die Therapie zielt auf die Ursache und begleitende Elektrolytverschiebung ab. Eine isolierte pH-Korrektur ohne Elektrolytausgleich bleibt meist ineffektiv.
Literatur
- Rehm et al. Das Stewart-Modell – „Moderner“ Ansatz zur Interpretation des Säure-Basen-Haushalts. Der Anaesthesist. 2004;53:347–357. DOI:10.1007/s00101-004-0660-x
- Stewart. How to Understand Acid-Base: A Quantitative Acid-Base Primer for Biology and Medicine. Elsevier; 1981.
- Stewart. Modern quantitative acid-base chemistry. Can J Physiol Pharmacol. 1983;61(12):1444–1461.