Glossopharyngeusneuralgie
Synonym: Nervus-IX-Neuralgie, vago-glossopharyngeale Neuralgie (VGPN), Collet-Sicard-Syndrom
Englisch: glossopharyngeal neuralgia, vago-glossopharyngeal neuralgia
Definition
Als Glossopharyngeusneuralgie, kurz GPN, bezeichnet man ein Reizsyndrom des Nervus glossopharyngeus, das durch Schmerzattacken im Rachen, Gaumen, der Tonsillengegend, dem Zungengrund und dem Ohr gekennzeichnet ist. Teilweise besteht parallel eine Fehlfunktion des Nervus vagus, was als vago-glossopharyngeale Neuralgie bezeichnet wird.
- ICD-10: G52.1
Epidemiologie
Die Glossopharyngeusneuralgie gilt als sehr seltene Erkrankung. Die jährliche Inzidenz wird mit etwa 0,8 Fällen pro 100.000 Einwohnern beziffert.[1] Männer und Frauen sind dabei ähnlich häufig betroffen.[1][2] Die Altersspanne ist recht breit, der Altersgipfel liegt zwischen 50 und 60 Jahren.[3] Ein Beginn vor dem 20. Lebensjahr ist sehr selten.[3]
Ätiopathogenese
Je nach Ätiologie kann zwischen einer primären (idiopathischen) und einer sekundären (symptomatischen) Glossopharyngeusneuralgie unterschieden werden.
Die Mehrheit der Glossopharyngeusneuralgien ist idiopathisch.[2][4] Hierbei wird eine lokale Demyelinisierung und/oder Axondegeneration des Nervus glossopharyngeus und z.T. des Nervus vagus, ein nicht darstellbarer Gefäß-Nervenkontakt oder eine Dysfunktion innerhalb des Pons diskutiert.[2][5]
Sekundäre Formen weisen eine spezifische Krankheitsursache auf. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird hierbei eine Schädigung des/der Nerven durch den pulsatilen Druck eines elongierten oder ektatischen Blutgefäßes vermutet,[4][5][6] was zur lokalen Demyelinisierung und hierdurch zur ephaptischen Erregung führt. Diese Erkrankungsform wird auch als „klassische“ GPN bezeichnet.[7] Am häufigsten handelt es sich bei dem betreffenden Gefäß um die Arteria cerebelli posterior inferior (PICA), gefolgt von der Arteria vertebralis. Seltener ist die Arteria cerebelli anterior inferior (AICA) verantwortlich.[6]
Gelegentlich kann auch eine der folgenden Erkrankungen eine sekundäre GPN hervorrufen:[2][4][5][6][8][9]
- Tumorkompression
- Kleinhirnbrückenwinkeltumoren, z.B. Vestibularisschwannome
- infiltrierende Larynx-, Oropharynx- und Zungenkarzinome
- Tumoren der Schädelbasis, z.B. Foramen-jugulare-Tumoren
- Demyelinisierung der im Hirnstamm verlaufenden Anteile bei multipler Sklerose
- Nervenschädigung durch eine Radatio
- Nervenschädigung durch Infektionen
- traumatische und iatrogene Nervenläsionen
- Eagle-Syndrom
- Sjögren-Syndrom
- Morbus Paget der Schädelbasis
- vaskuläre Nervenschädigung
- Arnold-Chiari-Malformation
- okzipitale Schädeldeformitäten
Klinik
Leitsymptom der Glossopharyngeusneuralgie sind Schmerzattacken im Innervationsgebiet der betroffenen Nerven. Hierbei handelt es sich um unilaterale, blitzartig einschießende Schmerzen, die für Sekundenbruchteile bis zu 2 Minuten anhalten.[2][5] In seltenen Fällen sind auch bilaterale oder wechselseitige sowie dauerhafte Schmerzen beschrieben.[4][6]
Die Intensität der Schmerzen ist hoch bis sehr hoch, sie werden als stechend oder elektrisierend beschrieben.[2][4] Typischerweise beginnen sie im Bereich von hinterem Zungendrittel und dem Pharynx und strahlen in den Kiefer oder das Ohr aus,[2] seltener ist eine Ausstrahlung vom Ohr in umgekehrte Richtung.[4] Weitere Schmerzlokalisationen sind Larynx, Epiglottis, Gaumen, Tonsillengegend, Mastoid und hinter den Molaren.[2][4][5][6]
Die Schmerzattacken treten meist am Tag, seltener auch in der Nacht auf.[2][4][6] Typischerweise sind sie sehr unregelmäßig verteilt. Zwischen ihnen können Minuten bis Stunden liegen.[4][6] Oft findet sich ein Auftreten in wochen- bis monatsweisen Clustern.[4] Attacken können unvermittelt einsetzen, üblicherweise sind sie jedoch ausgelöst durch folgende Triggerfaktoren:[2][4][5][6]
- plötzliche Kopfbewegungen
- Berührung des Zahnfleisches, des Ohrs oder der Tonsillarregion
- Husten, Räuspern, Niesen, Schnäuzen
- Schlucken, Sprechen, Lachen, Kauen, Gähnen
- Laterotrusion des Kiefers
- süße, saure, kalte oder heiße Speisen oder Getränke
Während oder zwischen den Schmerzattacken sind z.B. folgende Begleitsymptome möglich:[2][4][6]
- Husten und Heiserkeit
- Dysarthrie, Dysphagie
- Tinnitus
- Schwindel
- unwillkürliche Bewegungen der innervierten Muskulatur
- Dysästhesien oder Hypästhesie im Innervationsgebiet des Nervens
- autonome Symptome wie Erbrechen, Lakrimation, Schwitzen, Hypersalivation, unilaterale Mydriasis
Bei etwa 10 % der Patienten finden sich sehr schwere Vaguseffekte,[4] was sowohl durch eine Beteiligung des Ramus sinus carotici als auch durch den nahe benachbarten Verlauf beider Nerven erklärbar ist. Typische Symptome sind z.B.:[2][4][6]
Sehr selten kann sich eine vago-glossopharyngeale Neuralgie auch durch isolierte Synkopen ohne assoziiertes Schmerzsyndrom äußern.[4]
Die Glossopharyngeusneuralgie kann gelegentlich auch gleichzeitig mit einer Trigeminusneuralgie auftreten.[6][7]
Diagnostik
In der klinischen Untersuchung kann auf eine Auslösung von Attacken durch Spateldruck auf die Tonsillenregion untersucht werden.[2] Als weiterer diagnostischer Hinweis gilt die Besserung der Beschwerden nach Injektion eines Lokalanästhetikums an Triggerzonen wie der Tonsillenloge oder dem Pharynx.[2][4]
Je nach vermuteter Ursache sollte eine weitere Ursachendiagnostik erfolgen. Der meist ursächliche Gefäß-Nerven-Kontakt kann teilweise per Hirnstamm-MRT dargestellt werden.
Diagnosekriterien
Die Diagnosestellung erfolgt nach den ICHD-3-Kriterien der IHS:[7]
- rezidivierende, paroxysmale, unilaterale Schmerzattacken im Innervationsgebiet des Nervus glossopharyngeus
- Vorhandensein folgender Schmerzcharakteristika
- Dauer über wenige Sekunden bis zu 2 Minuten
- hohe Schmerzintensität
- elektrisierende, einschießende, stechende oder scharfe Schmerzqualität
- ausgelöst durch Schlucken, Husten, Sprechen oder Gähnen
- Symptomatik nicht besser durch eine andere ICHD-3-Diagnose erklärbar
Differentialdiagnose
In der Differenzialdiagnostik zu bedenken sind unter anderem:
- Trigeminusneuralgie
- Nervus-intermedius-Neuralgie
- Nervus-laryngeus-superior-Neuralgie
- Clusterkopfschmerz
- atypischer Gesichtsschmerz
- Zahnschmerzen, Entzündungen im Mund- und Rachenbereich (Tonsillitis, Zahnfleischentzündung)
- Kraniomandibuläre Dysfunktion
Therapie
Bei idiopathischer und klassischer GPN sollte primär konservativ behandelt werden.[2][4][5] Hierzu dienen:[2][4]
- primär Carbamazepin, Oxcarbazepin, Gabapentin oder Pregabalin
- bei persistierenden Schmerzen zusätzlich Amitriptylin als Co-Analgetikum
- Nervenblockade durch Injektion eines Lokalanästhetikums (z.B. Xylocain) per intraoralem (über die Tonsillenloge) oder extraoralem Zugang; im Rahmen dessen auch chemische Neurolyse durch Infiltration mit Ethanol, Glyzerol oder Phenol
In der Regel kann hiermit bereits eine gute Symptomkontrolle erreicht werden. In schweren, therapierefraktären Fällen sind zusätzlich interventionelle oder chirurgische Behandlungsmöglichkeiten verfügbar:[4]
- Radiofrequenzablation am Ganglion petrosum
- mikrovaskuläre Dekompression (MVD) bei klassischer GPN
- Rhizotomie (Durchtrennung des Nervenaustritts) bei fehlendem Nachweis eines Gefäß-Nerven-Kontakts oder erschwerter MVD
- stereotaktische Nervenbestrahlung ("gamma-knife")
Symptomatische Formen werden in Abhängigkeit von der Ursache behandelt.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Katusic et al., Epidemiology and Clinical Features of Idiopathic Trigeminal Neuralgia and Glossopharyngeal Neuralgia: Similarities and Differences, Rochester, Minnesota, 1945-1984, Neuroepidemiology, 1991.
- ↑ 2,00 2,01 2,02 2,03 2,04 2,05 2,06 2,07 2,08 2,09 2,10 2,11 2,12 2,13 2,14 2,15 Han et al., Glossopharyngeal Neuralgia: Epidemiology, Risk factors, Pathophysiology, Differential diagnosis, and Treatment Options, Health Psychology Research, 2022.
- ↑ 3,0 3,1 Rushton et al., Glossopharyngeal (Vagoglossopharyngeal) Neuralgia - A Study of 217 Cases, Archives of Neurology, 1981.
- ↑ 4,00 4,01 4,02 4,03 4,04 4,05 4,06 4,07 4,08 4,09 4,10 4,11 4,12 4,13 4,14 4,15 4,16 4,17 4,18 Blumenfeld, Nikolskaya, Glossopharyngeal Neuralgia, Current Pain and Headache Reports, 2013.
- ↑ 5,0 5,1 5,2 5,3 5,4 5,5 5,6 Khan et al., Trigeminal Neuralgia, Glossopharyngeal Neuralgia, and Myofascial Pain Dysfunction Syndrome: An Update, Pain Research and Management, 2017.
- ↑ 6,00 6,01 6,02 6,03 6,04 6,05 6,06 6,07 6,08 6,09 6,10 Shah, Padalia, Glossopharyngeal Neuralgia, StatPearls, 2023.
- ↑ 7,0 7,1 7,2 International Headache Society (IHS), Glossopharyngeal neuralgia in der IHCD-3-Klassifikation, aufgerufen am 30.08.2025.
- ↑ Kanpolat et al., Chiari Type I Malformation Presenting as Glossopharyngeal Neuralgia: Case Report, Neurosurgery, 2001.
- ↑ Kim und Lee, Posterior condylar canal dural arteriovenous fistula as a rare cause of glossopharyngeal neuralgia: A case report, Headache, 2021.