Radiologisch isoliertes Syndrom
Englisch: radiologically isolated syndrome
Definition
Das radiologisch isolierte Syndrom, kurz RIS, ist ein Befundmuster in der Magnetresonanztomographie (MRT) des zentralen Nervensystems, bei dem Multiple-Sklerose-typische T2-hyperintense Läsionen an charakteristischen Lokalisationen nachweisbar sind. Es handelt sich meist um einen Zufallsbefund bei Personen ohne vorangegangene klinische Symptome einer demyelinisierenden Erkrankung und ohne Hinweis auf eine andere Ursache.
Hintergrund
Die Läsionen fallen meist inzidentell bei MRT-Untersuchungen auf, die aus anderen Gründen durchgeführt werden, zum Beispiel bei Kopfschmerzen, Schädeltrauma, Schwindel oder Tinnitus. Für die Diagnose sind Lage, Form und Verteilung der Läsionen entscheidend, nicht unspezifische Hyperintensitäten. Eine sorgfältige Differenzialdiagnostik ist notwendig, insbesondere gegenüber Mikroangiopathie, Migräne, vaskulitischen oder granulomatösen Erkrankungen.
Kriterien
Nach den revidierten RIS-Kriterien von 2023[1] stützt sich die Diagnose des radiologisch isolierten Syndroms auf charakteristische MRT-Befunde, die dem Bild einer Multiplen Sklerose entsprechen, ohne dass klinische Symptome einer demyelinisierenden Erkrankung vorhanden sind. Ausgangspunkt ist der Nachweis ovoider, scharf begrenzter T2-Läsionen ab etwa 3 mm, mit oder ohne Beteiligung des Corpus callosum. Die Läsionen müssen in typischen MS-Regionen auftreten (periventrikulär, juxtakortikal, infratentoriell oder spinal), dürfen kein mikroangiopathisches oder unspezifisches Muster zeigen und nicht durch eine andere Ursache erklärbar sein.
Sind die Eingangsvoraussetzungen erfüllt, kann die Diagnose auf zwei Wegen gestellt werden:
| Option | Diagnostische Kriterien |
|---|---|
| A | Die Index-MRT erfüllt mindestens 3 der 4 Kriterien für eine räumliche Dissemination:
Eine spinale Läsion kann eine infratentorielle Läsion ersetzen, Gd-aufnehmende spinale Läsionen gelten wie Gd-aufnehmende Hirnläsionen, spinale und zerebrale T2-Läsionen können zusammengezählt werden. |
| B | Die Index-MRT zeigt mindestens eine Läsion in einer typischen Region (periventrikulär, juxtakortikal, infratentoriell oder spinal) und zusätzlich mindestens zwei der folgenden Kriterien:
|
Das RIS wird heute als das früheste dokumentierte Stadium bzw. als präklinische Phase im Multiple Sklerose-Kontinuum verstanden.[2] Nach den revidierten McDonald-Kriterien von 2024 kann in bestimmten Konstellationen auch ohne vorangegangenen klinischen Schub eine MS-Diagnose gestellt werden.[3]
Bedeutung
Das kumulative Risiko für ein erstes klinisches Ereignis bei Vorliegen einer RIS liegt bei etwa 34 % nach fünf Jahren und 51 % nach zehn Jahren, mit deutlichen Unterschieden je nach Risikoprofil. Höheres Risiko besteht bei:[4]
- jüngerem Alter
- männlichen Geschlecht
- spinalen oder infratentoriellen Läsionen
- liquorspezifischen oligoklonalen Banden (OKB)
- neuen T2-Läsionen oder Gadolinium-aufnehmenden Läsionen
Erste randomisierte kontrollierte Studien konnten zeigen, dass krankheitsmodifizierende Therapien wie Dimethylfumarat und Teriflunomid den Übergang vom RIS zu einem klinischen Ereignis verzögern können,[5][6]wobei der Einsatz derzeit außerhalb der zugelassenen Indikationen erfolgt (off-label).
Quellen
- ↑ Lebrun-Frénay et al., The radiologically isolated syndrome: revised diagnostic criteria, Brain, 2023
- ↑ Lebrun-Frenay, The Confavreux lecture: The radiologically isolated syndrome diagnosis, prognosis and perspectives, Multiple Sclerosis Journal, 2025
- ↑ Montalban et al., Diagnosis of multiple sclerosis: 2024 revisions of the McDonald criteria, The Lancet Neurology, 2025
- ↑ Lebrun-Frenay et al., Radiologically isolated syndrome: 10-year risk estimate of a clinical event, Ann Neurol, 2020
- ↑ Okuda et al., Dimethyl fumarate delays multiple sclerosis in radiologically isolated syndrome, Annals of Neurology, 2023
- ↑ Lebrun-Frénay et al., Teriflunomide and time to clinical multiple sclerosis in radiologically isolated syndrome, JAMA Neurology, 2023