Ventromedialer präfrontaler Cortex
Wir werden ihn in Kürze checken und bearbeiten.
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Definition
Der ventromediale präfrontale Cortex, kurz vmPFC, ist ein funktionell und anatomisch definierter Anteil des präfrontalen Cortex an der medialen und ventralen Fläche des Temporallappens. Er spielt eine zentrale Rolle bei der Integration emotionaler, motivationaler und kognitiver Informationen sowie bei der top-down-Modulation limbischer Aktivität, insbesondere der Amygdala.
Hintergrund
Das Konzept des vmPFC wurde wesentlich durch Läsionsstudien (u. a. durch Phineas Gage) sowie durch moderne funktionelle Bildgebung geprägt. Klinisch relevant wurde der vmPFC in jüngerer Zeit durch seine Bedeutung für emotionsgeleitete Entscheidungsfindung, soziales Verhalten und Affektregulation. Funktionell steht er an der Schnittstelle zwischen präfrontaler Exekutivkontrolle und limbischem System.
Anatomie
Aufgrund der überwiegend funktionellen Definition des vmPFC ist die anatomische Abgrenzung zu umliegenden Systemen häufig fließend. Folgende anatomische Beschreibung hat sich als allgemeingültig erwiesen:
- Lokalisation:
- ventrale und mediale Anteile des Frontallappens
- inferior des Gyrus cinguli anterior
- medial des orbitofrontalen Cortex
- Brodmann-Areale (variabel):
- BA 10 (medialer Anteil)
- BA 11
- BA 14 (v. a. in nicht-humanen Primaten)
- BA 25 (subgenualer anteriorer cingulärer Komplex (ACC))
- Zytologie:
- agranulärer bis dysgranulärer Cortex
Verbindungen
Als Integrationszentrum höherer kognitiver und emotionaler Funktionen besitzt der ventromediale präfrontale Cortex zahlreiche Verbindungen, die seine Schlüsselrolle in der Emotions-Autonomie-Kopplung erklären:
Afferenzen
- Amygdala
- Hippocampus / Gyrus parahippocampalis
- Insula (v. a. anteriorer Teil)
- Thalamus (mediodorsaler Kern)
- Hirnstamm (divers; v. a. via monoaminerger Systeme)
Efferenzen
- Amygdala (modulatorisch-inhibitorisch)
- Hypothalamus
- periaquäduktales Grau
- Nucleus accumbens / ventrales Striatum
- diffuse autonome Regulationszentren
Funktion
Es konnte die Mitwirkung an diversen höheren Funktionen nachgewiesen werden. Hierbei sei zu beachten, dass diese selten monozentrisch (nur im vmPFC) sondern zumeist multizentrisch angesiedelt sind:
- Bewertung emotionaler Reize (sog. "value assignment")
- Emotionsregulation durch präfrontale Hemmung limbischer Reaktivität (nur der vmPFC ist hierzu in der Lage)
- Integration somatischer Marker (sog. "somatic marker hypothesis" nach Damasio)
- Entscheidungsfindung unter Unsicherheit und bei emotional geprägter Ambivalenz
- Soziale Kognition (u. a. Empathie, moralische Urteile, Theory of Mind-Anteile
- Regulation vegetativer Reaktionen (u. a. Herzfrequenz, Stressantwort)
Psychopathologie
Eine unzureichende vmPFC-Funktion führt zu einer dominanten limbischen Reaktivität bei fehlender präfrontaler Modulation. Dies äußert sich klinisch und psychologisch durch:
- impulsives, affektgesteuertes Verhalten
- reduzierte Frustrationstoleranz
- inadäquate Angst- und Stressreaktion
- eingeschränkte Emotionsdifferenzierung
- defizitäre soziale Anpassung und moralische Urteile
Damit assoziierte Störungsbilder erstrecken sich u. a. auf:
- affektive Störungen (u. a. Depression)
- Angststörungen und PTSD
- Borderline-Persönlichkeitsstörung
- substanzgebundene Abhängigkeit
Funktionell lassen sich die klinisch-psychologischen Erscheinungen als Versagen der top-down-Inhibition limbischer Strukturen (v. a. der Amygdala) interpretieren.
Trivia
In jüngerer Zeit wird häufiger (v. a. in sozialen Netwerken) der populärpsychologische Begriff "emotional unreif" im Kontext der Dating-Szene verwendet. Dieser populärgesellschaftliche Begriff lässt sich neurobiologisch pointiert als unzureichende vmPFC-vermittelte Top-down-Modulation limbischer Aktivität lesen.
Gemeint ist dabei kein struktureller Defekt, sondern ein funktionelles Ungleichgewicht: Die Amygdala reagiert schnell, intensiv und kontextarm, während der ventromediale präfrontale Cortex affektive Bewertung, Impulskontrolle und soziale Konsequenzabschätzung nur verzögert oder inkonsistent einbringt.
Typische Dating-Phänomene wie Ghosting, impulsive Beziehungsabbrüche, Überreaktionen auf Zurückweisung oder Nähe-Distanz-Instabilität entsprechen dabei alltagsnahen Manifestationen einer limbischen Dominanz bei relativer vmPFC-Untersteuerung.
In der Populärkultur wird dieses Muster moralisch etikettiert („unreif“), während es fachlich treffender als situativ reduzierte präfrontale Emotionsregulation zu beschreiben ist. Entsprechend ist das beschriebene Phänomen häufig entgegen der populärpsychologischen Meinung kein Charakterproblem, sondern ein neurobiologisches Regulationsproblem zwischen vmPFC und limbischem System.
Literatur
- Bechara A, et al., Deciding advantageously before knowing the advantageous strategy. Science, 1997.
- Saul MA, et al., A Two-Person Neuroscience Approach for Social Anxiety: A Paradigm With Interbrain Synchrony and Neurofeedback. Front. Psychol., 2022.
- Quirk GJ & Beer JS, Prefrontal involvement in the regulation of emotion: convergence of rat and human studies. Curr Opin Neurobiol., 2006.
- Roy M, et al., Ventromedial prefrontal-subcortical systems and the generation of affective meaning. Trends Cogn Sci., 2012.
- Viviani R, Neural correlates of emotion regulation in the ventral prefrontal cortex and the encoding of subjective value and economic utility. Front. Psychol., 2014.