Brodmann-Areal 10
Synonyme: BA 10, Brodmann-Area 10, frontopolarer präfrontaler Cortex, anteriorer präfrontaler Cortex
Definition
Das Brodmann-Areal 10 bildet den rostralen Anteil des präfrontalen Cortex. Er spielt eine zentrale Rolle bei abstrakten, metakognitiven und prospektiven Kontrollprozessen, insbesondere bei dem Priorisieren von Zielen.
Hintergrund
Phylogenetisch ist das Brodmann-Areal 10 eines der jüngsten Areale des menschlichen Neokortex. Im Vergleich zu anderen Primaten ist das Areal bei Menschen sehr stark entwickelt. Es zeichnet sich durch eine geringe neuronale Zelldichte bei gleichzeitig hoher dendritischer Komplexität aus, was auf eine integrative statt primär sensorische oder motorische Funktion hindeutet.
Gelegentlich wird in der Literatur das Brodmann-Areal 10 auch dem ventromedialen präfrontalen Cortex (vmPFC) zugerechnet.
Anatomie
Aufgrund der Lage und besonderen Zytoarchitektur gelingt die Abgrenzung zu umliegenden Systemen relativ gut.
Das Brodmann-Areal 10 liegt im rostralen Pol des Frontallappens. Es befindet sich anterior des dorsolateralen präfrontalen Cortex, insbesondere der Brodmann-Areale 9 und 46, sowie anterior des ventromedialen präfrontalen Cortex, zu dem unter anderem die Brodmann-Areale 11 und 12 zählen.
Die Zytoarchitektur des Brodmann-Areals 10 entspricht einem granulären Isokortex mit ausgeprägter Lamina III und Lamina V. Charakteristisch ist eine insgesamt geringe neuronale Zelldichte bei gleichzeitig großen Pyramidenneuronen, deren weitreichende Assoziationsprojektionen die integrative Verschaltung des Areals unterstützen.
Verbindungen
Das Brodmann-Areal 10 weist extensive reziproke Verbindungen zu höheren Zentren und Assoziationscortices auf:
- dorsolateraler präfrontaler Cortex (Arbeitsgedächtnis, exekutive Kontrolle)
- orbitofrontaler Cortex (Bewertung, Belohnung)
- anteriorer cingulärer Komplex (ACC; Konfliktmonitoring)
- Temporallappen (semantisches Gedächtnis)
- diverse posteriore Assoziationscortices
Trotz dieses weitreichenden Netzwerks besitzt dieser Anteil des präfrontalen Cortex keine direkten Verbindungen zu primär-motorischen oder primär-sensorischen Arealen.
Funktion
Das Brodmann-Areal 10 wird weniger mit unmittelbarer Handlungssteuerung als eher mit übergeordneter kognitiver Rolle assoziiert. Zentrale Funktionsbereiche sind:
- prospektives Gedächtnis: Aufrechterhaltung zukünftiger Handlungsabsichten bei gleichzeitiger Ausführung anderer Aufgaben
- Multitasking und Priorisieren von Zielen: Koordination paralleler kognitiver Prozesse; Wechsel zwischen stimulusorientierter und selbstgenerierter Aufmerksamkeit (sog. "Branching-Control-Modell" nach Koechlin)
- Metakognition: Reflexion über eigene Gedanken, Entscheidungen und Unsicherheiten
- Abstraktes Denken und Exploration: Bewertung hypothetischer Szenarien; strategische Planung ohne unmittelbaren Handlungsdruck
- "Default-Mode-Interaktion": Funktionelle Kopplung mit Netzwerken selbstgezogener Kognition, inneres Denken
Klinik
Läsionen oder funktionelle Störungen des Brodmann-Areals 10 führen typischerweise nicht zu klassischen neuropsychologischen Defiziten, sondern zu subtilen, alltagsrelevanten Veränderungen. Zu diesen gehören:
- Dysexekutives Syndrom: Schwierigkeiten bei langfristiger Planung; reduzierte Fähigkeit zur Zielverfolgung
- Störungen des prospektiven Gedächtnisses: Verminderte Fähigkeit, zukünftige Handlungsabsichten situations- oder zeitgerecht zu erinnern und auszuführen
- Persönlichkeitsveränderungen: Verminderte Selbstreflexion; Enthemmung oder umgekehrt Apathie
Literatur
- Burgess PW, et al., The gateway hypothesis of rostral prefrontal cortex (area 10) function. Trends Cogn Sci., 2007.
- Koechlin E & Hyafil A, Anterior prefrontal function and the limits of human decision-making. Science, 2007.
- Gilbert SJ, et al., Functional specialization within rostral prefrontal cortex (area 10): a meta-analysis. J Cogn Neurosci., 2006.