Somatic-Marker-Hypothese
Definition
Die Somatic-Marker-Hypothese ist ein neurobiologisches Modell der Entscheidungsfindung. Sie besagt, dass körperliche (somatische) Zustände, die mit früheren emotionalen Erfahrungen assoziiert sind, unbewusst kognitive Prozesse – insbesondere Entscheidungen unter Unsicherheit – beeinflussen. Diese sogenannten somatischen Marker fungieren als affektive Signale, die Handlungsoptionen bewerten und dadurch Entscheidungsprozesse erleichtern oder einschränken.
Hintergrund
Die Hypothese wurde in den 1990er-Jahren von António R. Damásio entwickelt. Ausgangspunkt waren klinische Beobachtungen von Patienten und Patientinnen mit Läsionen im ventromedialen präfrontalen Kortex, die trotz weitgehend erhaltener Intelligenz, Gedächtnisleistung und formaler logischer Fähigkeiten erhebliche Schwierigkeiten bei realitätsnahen, sozial und emotional geprägten Entscheidungen zeigten.
Theoretisches Modell
Somatische Marker entstehen durch die Verknüpfung bestimmter Reize, Situationen oder Handlungsoptionen mit körperlichen Reaktionen, die im Rahmen emotional bedeutsamer Erfahrungen erworben wurden. Dazu zählen unter anderem autonome Veränderungen wie Modulationen von Herzfrequenz, Blutdruck, Hautleitfähigkeit oder viszeralen Empfindungen.
In späteren, strukturell vergleichbaren Entscheidungssituationen werden diese somatischen Reaktionsmuster reaktiviert und beeinflussen die Bewertung der verfügbaren Optionen, häufig ohne bewusste Wahrnehmung. Auf diese Weise tragen somatische Marker zur Reduktion der kognitiven Komplexität bei, indem sie potenziell nachteilige Handlungsalternativen frühzeitig negativ markieren.
Neuroanatomisch wird die Verarbeitung somatischer Marker vor allem dem ventromedialen präfrontalen Kortex und dem orbitofrontalen Kortex zugeschrieben. Die Amygdala spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung primärer emotionaler Reize, während die Insula an der bewussten Wahrnehmung körperlicher Zustände beteiligt ist. Die Integration emotionaler, somatischer und kognitiver Informationen erfolgt innerhalb eines verteilten neuronalen Netzwerks.
Experimentelle Evidenz
Ein zentrales experimentelles Paradigma zur Überprüfung der Somatic-Marker-Hypothese ist die Iowa Gambling Task. Gesunde Personen zeigen hierbei bereits früh antizipatorische autonome Reaktionen, v.a. eine erhöhte Hautleitfähigkeit, vor der Auswahl langfristig nachteiliger Kartenstapel, noch bevor sie diese explizit als ungünstig identifizieren können.
Betroffene mit Läsionen im ventromedialen präfrontalen Kortex entwickeln diese antizipatorischen Reaktionen nicht oder nur abgeschwächt und treffen trotz intakter deklarativer Kenntnisse weiterhin riskante und langfristig ungünstige Entscheidungen.
Bedeutung
Die Somatic-Marker-Hypothese liefert einen wichtigen theoretischen Rahmen zur Erklärung der engen Wechselwirkung zwischen Emotion, Körper und Kognition. Sie trägt zum Verständnis von Entscheidungsstörungen bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen bei, darunter frontale Hirnschädigungen, Abhängigkeitserkrankungen, Impulskontrollstörungen sowie bestimmte Persönlichkeitsstörungen. Darüber hinaus hat das Modell Einfluss auf Konzepte der affektiven Neurowissenschaften, der Neuroökonomie und der klinischen Neuropsychologie.
Kritik
Trotz ihrer breiten Rezeption ist die Somatic-Marker-Hypothese Gegenstand anhaltender Diskussionen. Kritisch hinterfragt werden u.a. die Spezifität somatischer Marker sowie ihre kausale Bedeutung für Entscheidungsprozesse. Unklar bleibt, inwieweit autonome Reaktionen eine notwendige Voraussetzung adaptiver Entscheidungen sind. Dennoch gilt die Hypothese als ein einflussreiches integratives Modell, das emotionale und körperliche Prozesse systematisch in kognitive Theorien der Entscheidungsfindung einbezieht.
Literatur
- Bechara et al. Insensitivity to future consequences following damage to human prefrontal cortex. Cognition, 50(1-3): 7–15. 1994
- Damásio. Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: Putnam. 1994
- Bechara und Damasio. The somatic marker hypothesis: A neural theory of economic decision. Games and Economic Behavior, 52(2): 336–372. 2005