Entscheidungsfindung (Akutmedizin)
Englisch: decision-making
Definition
Entscheidungsfindung bezeichnet in der Akutmedizin den Prozess, unter Zeitdruck mit begrenzten Informationen adäquate diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu ergreifen. Sie verbindet analytisches Denken mit Intuition und nutzt Teamressourcen, um schnell, sicher und effektiv zu handeln. Dabei muss die Umsetzbarkeit der Maßnahmen berücksichtigt werden.
Hintergrund
In der Akut- und Notfallmedizin haben Entscheidungen oft unmittelbare Auswirkungen auf das Überleben kritischer Patienten. Fehler oder Verzögerungen können schwerwiegende Folgen haben. Während die medizinische Ausbildung primär Fachwissen vermittelt, fehlen häufig spezifische Trainings für Entscheidungen unter Stress. Zur Unterstützung wurden Methoden wie Crew Resource Management (CRM), strukturierte Algorithmen (z.B. xABCDE, SAMPLER), Checklisten sowie Entscheidungshilfen (z.B. FOR-DEC, DECIDE) etabliert.
Entscheidungsstrategien
Analytische Entscheidungen beruhen auf systematischer Überprüfung von Regeln, Leitlinien und klinischen Ergebnissen. Sie ermöglichen rationale Abwägungen, bergen jedoch die Gefahr der „Paralyse durch Analyse“, wenn zu lange auf perfekte Informationen oder Lösungen gewartet wird.
Im Gegensatz dazu basieren intuitive Entscheidungen auf Erfahrung, Mustererkennung und situativem Urteilsvermögen. Richtig eingesetzt sind sie keineswegs unsicher, ihre Genauigkeit hängt jedoch stark von der individuellen Expertise ab.
Im klinischen Alltag empfiehlt sich eine Kombination aus analytischem Denken und Intuition. Analytische Strategien sichern die Nachvollziehbarkeit, während Intuition schnelle Reaktionen auf dynamische Situationen ermöglicht. Ergänzend steigert die Delegation von Maßnahmen innerhalb des Teams die Effizienz und Sicherheit.
Entscheidungshilfen
Modelle wie FOR-DEC oder DECIDE bieten strukturierte Unterstützung. Das FOR-DEC-Modell etwa erleichtert in Notfallsituationen das systematische Sammeln, Abwägen und Umsetzen von Entscheidungen. Es ist in der folgenden Tabelle zusammengefasst:
| Schritt | Bedeutung | Praxisbeispiel |
|---|---|---|
| F – Facts | Sammeln relevanter Informationen | Vitalzeichen, EKG, Symptome, Labordaten |
| O – Options | Entwicklung möglicher Handlungsalternativen | Medikamente, Beatmung,
Transport ins Krankenhaus vs. Therapie vor Ort |
| R – Risks & Benefits | Abwägen von Risiken und Nutzen der verfügbaren Optionen | Nutzen vs. Nebenwirkungen, Zeitaufwand |
| D – Decision | Treffen der Entscheidung | Wahl einer konkreten Intervention oder Therapie |
| E – Execution | Umsetzung der gewählten Maßnahme | Medikamentengabe, Intubation, Teamdelegation |
| C – Check | Kontrolle der Wirkung und ggf. Anpassung | Beobachtung von Vitalzeichen, Reaktion auf Therapie |
Mentale Vorbereitung
Mental-Resharing (Mentale Praxis) ist die kognitive Übung von Fähigkeiten ohne physische Ausführung und ermöglicht es, Notfallszenarien (z.B. Koniotomie, Notfallnarkose oder Blutungskontrolle) gedanklich durchzuspielen. Sie verbessert die Vorbereitung auf stressige Situationen, fördert die Teamkoordination und Entscheidungsfähigkeit. Studien zeigen, dass mentale Übungen die Teamleistung in simulierten Notfällen steigern. Regelmäßiges Training unterstützt ein strukturiertes und sicheres Vorgehen.
Heuristiken und kognitive Verzerrungen
Unter Zeitdruck greifen Menschen auf Heuristiken zurück, die Entscheidungen erleichtern, aber auch Fehler begünstigen. Reflexion, Metakognition und strukturierte Hilfen können diesen Einfluss mindern. Typische Verzerrungen sind:
- Verfügbarkeitsheuristik: Ereignisse werden nach der Leichtigkeit des Abrufs aus dem Gedächtnis eingeschätzt.
- Ankerheuristik: Erste Informationen beeinflussen die nachfolgende Beurteilung unverhältnismäßig stark.
- Bestätigungsfehler: Wahrnehmung wird den eigenen Erwartungen angepasst.
- Rückschaufehler (Hindsight Bias): Nachträgliches Wissen verfälscht die ursprüngliche Einschätzung.
- Affektheuristik: Entscheidungen werden stark von emotionalen Eindrücken geleitet.
- Sunk-Cost-Fallacy: Bereits investierte Ressourcen führen zur Fortführung falscher Strategien.
- Premature Closure: Diagnose oder Entscheidung wird vorschnell abgeschlossen.
Literatur
- Krieger und Blumenthal-Barby. Cognitive biases and heuristics in medical decision making: A critical review using a systematic search strategy. Medical Decision Making, 34(5), 539–547. 2014
- John Dabell – Using The FOR-DEC Decision Making Tool, abgerufen am 20.08.2025
- Pierre und Hofinger. Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. Auflage 10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg. 2014
- Meißner und Neugebauer. Klinische Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin: DOI: 10.1055/a-0757-9089 Notfallmedizin up2date. 14 (1): 71–87. 2019. ISSN 1611-6550 2019 Georg Thieme Verlag KG
- Wehking et al. Partizipative Entscheidungsfindung in der Notfallmedizin: Warum die deutsche Notfallmedizin in ihren aktuellen Reformbestrebungen einen verheißungsvollen Trend verschläft. Notfall + Rettungsmedizin. 28(4):279–285. 2024