Dissoziative Anästhesie
Englisch: dissociative anesthesia
Definition
Die dissoziative Anästhesie ist eine Form der Anästhesie, bei der es zu einer funktionellen Trennung (Dissoziation) zwischen dem Bewusstsein und der sensorischen Wahrnehmung kommt. Sie ist durch eine Kombination aus Analgesie, Amnesie, Sedierung und Bewusstseinsveränderung gekennzeichnet, ohne dass eine vollständige Bewusstlosigkeit im klassischen Sinn eintritt.
Hintergrund
Die erste Beschreibung der dissoziativen Anästhesie durch Domino, Chodoff und Corssen (1965) basiert auf ersten Studien mit Ketamin. Hierbei wurde eine ausgeprägte Analgesie und Bewusstseinsveränderung beobachtet, begleitet von erhaltenen Schutzreflexen und minimaler Atemdepression. Dieses Wirkprofil unterschied sich grundlegend von allen bisherigen Anästhetika.
Charakteristika
Im Rahmen der dissoziativen Anästhesie wirken die Patienten äußerlich wach oder ansprechbar, sind aber innerlich vom Geschehen isoliert. Typisch für die dissoziative Anästhesie ist ein kataleptischer Zustand, bei dem der Patient mit offenen Augen regungslos wirkt, aber keine bewusste Interaktion mit der Umwelt zeigt. Die Spontanatmung und Schutzreflexe bleiben erhalten, was sie von anderen Anästhesieformen unterscheidet. Klinisch zeigt sich eine tiefe Analgesie, verbunden mit Amnesie und häufig Halluzinationen oder Traumreaktionen.
Typische Merkmale sind:
- Verlust der willentlichen Kommunikation und Kooperation
- Erhalt oder Steigerung von Muskeltonus und Reflexen
- Auftreten von psychischen Phänomenen wie Halluzinationen oder traumartigen Zuständen
- Bewusstseinsveränderungen mit Gefühl der Entfremdung oder „Loslösung“ vom Körper
Neurophysiologie
Die dissoziative Anästhesie basiert auf einer selektiven Unterbrechung der Informationsverarbeitung zwischen Thalamus und Großhirnrinde. Während primäre sensorische Signale im Gehirn ankommen, wird ihre bewusste Wahrnehmung durch funktionelle Entkopplung der Netzwerke verhindert. Dadurch bleibt die vegetative Reaktion auf Reize erhalten, während die bewusste Verarbeitung ausbleibt. Die dissoziative Anästhesie entsteht primär durch die nicht-kompetitive Blockade von NMDA-Rezeptoren. Die Substanzen – insbesondere Ketamin und sein Enantiomer Esketamin – hemmen die Wirkung des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat. Zusätzlich beeinflussen sie opioiderge, monoaminerge und cholinerge Systeme sowie spannungsgesteuerte Ionenkanäle.
Die Wahrnehmung von Reizen wird zwar weiterhin durch das Nervensystem verarbeitet, erreicht aber nicht das Bewusstsein des Patienten. Dadurch entsteht eine tiefe Analgesie, bei der auch starke Schmerzreize nicht bewusst wahrgenommen werden.
Klinische Bedeutung
Die dissoziative Anästhesie ist insbesondere für klinische Situationen von Bedeutung, in denen Analgesie und Sedierung notwendig sind, jedoch keine vollständige Bewusstlosigkeit oder Muskelrelaxation gefordert ist. Sie ermöglicht das Durchführen schmerzhafter Eingriffe bei weitgehend stabiler kardiopulmonaler Funktion und ohne Intubation. Daher wird die dissoziative Anästhesie mit z.B. Ketamin vor allem in der Notfallmedizin eingesetzt.
Literatur
- Domino EF, Chodoff P, Corssen G. Pharmacologic effects of CI-581, a new dissociative anesthetic, in man. Clin Pharmacol Ther. 1965
- Striebel: Die Anästhesiologie, 4. Auflage, Thieme, 2019
- Thiel et al: Anästhesiologische Pharmakotherapie, 4. Auflage, Thieme, 2021