Toleranzentwicklung (Psychologie)
Definition
Unter Toleranzentwicklung versteht man in der Psychologie und Suchtmedizin den Prozess der allmählichen Abschwächung einer Reiz- oder Substanzwirkung infolge wiederholter Exposition bzw. Verwendung. Die Toleranzentwicklung ist ein zentraler Suchtmechanismus und tritt sowohl bei stoffgebundenen (z.B. Alkohol, Opioide, Benzodiazepine) als auch stoffungebundenen Süchten (z.B. Glücksspiel, Internetnutzung) auf.
Mechanismen
Toleranz entsteht durch neuroadaptive Lernprozesse, die mit Veränderungen in zentralnervösen Regelkreisen einhergehen.
- Pharmakodynamische Toleranz: Anpassung von Rezeptordichte, -empfindlichkeit oder nachgeschalteten Signalwegen an wiederholte Substanzzufuhr.
- Pharmakokinetische Toleranz: Beschleunigter Abbau oder verminderte Bioverfügbarkeit des Wirkstoffs durch Induktion von Enzymen.
- Konditionierte Toleranz: Lernpsychologisch erklärbar über klassische Konditionierung; Umgebungsreize werden zu Hinweisreizen, die kompensatorische physiologische Gegenreaktionen auslösen.
- Psychische Toleranz: Subjektive Gewöhnung an die Reizwirkung und Anpassung des Erlebens an erhöhte Stimulationsschwellen.
Unabhängig vom jeweiligen Mechanimus führt die Toleranzentwicklung dazu, dass zur Erreichung derselben psychischen oder physiologischen Wirkung zunehmend höhere Dosen bzw. stärkere Reize erforderlich sind.
Auch bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten zeigt sich eine Toleranzentwicklung in Form von Gewöhnung an Belohnungsreize. Betroffene benötigen zunehmend intensivere, häufigere oder riskantere Reize, um das gleiche Maß an Befriedigung oder Erregung zu erleben. Dies beruht auf Veränderungen dopaminerger Verstärkungssysteme, die analog zu Substanzabhängigkeiten funktionieren.
Klinische Relevanz
Die Toleranzentwicklung trägt wesentlich zur Aufrechterhaltung und Chronifizierung von Suchterkrankungen bei. Sie erhöht das Rückfallrisiko, da Abstinenzphasen häufig mit verminderter Toleranz einhergehen und beim Wiederkonsum rasch Überdosierungen auftreten können. In der Therapie hilft die Kenntnis der zugrunde liegenden Lern- und Anpassungsmechanismen dabei, Rückfallprophylaxe und Psychoedukation zu gestalten.
Literatur
- Mann, K. (Hrsg.). (2014). Verhaltenssüchte: Grundlagen, Diagnostik, Therapie, Prävention. Springer Berlin / Heidelberg. DOI: 10.1007/978-3-642-38364-9. Verfügbar unter: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-642-38364-9
- Nestler EJ. Cellular basis of memory for addiction. Dialogues Clin Neurosci. 2013;15(4):431-443. doi:10.31887/DCNS.2013.15.4/enestler