Neurosendisposition
Definition
Die Neurosendisposition, kurz NDP, ist ein psychodynamisches Vulnerabilitätskonzept, das eine Neigung zu erhöhter emotionaler Reizbarkeit und neurotischen Reaktionsmustern beschreibt. Der Begriff ist nicht Teil moderner Diagnosesysteme und wird in der empirischen Forschung kaum verwendet. Er findet jedoch in der klinischen Umgangssprache und im Gutachterwesen weiterhin als heuristische Bezeichnung Anwendung.
Abgrenzung
Die Neurosendisposition ist keine psychische Störung im engeren Sinn, sondern beschreibt eine erhöhte psychische Ansprechbarkeit. Sie unterscheidet sich von der Neurose (als manifestem Krankheitsbild) und von den heute definierten Persönlichkeitsstörungen durch das Fehlen tiefgreifender, persistenter Funktionsbeeinträchtigungen. Eine konzeptionelle Nähe besteht zum Neurotizismus, einem gut untersuchten Persönlichkeitsmerkmal.
Hintergrund
Das Konzept entstand im Kontext psychoanalytischer Persönlichkeitsmodelle, die eine „Neigung zur Neurose“ als prädisponierenden Faktor annahmen. Obwohl der Begriff diagnostisch nicht mehr geführt wird, wird er in tiefenpsychologischer Therapieplanung, Indikationsbegründung und psychosomatischer Falldarstellung weiterhin genutzt, um Reaktionsmuster und strukturelle Vulnerabilität zu beschreiben. Typischerweise werden Personen mit einer Neurosendisposition als emotional empfindlich, stressreaktiv und grübelnd beschrieben, mit einer gewissen Tendenz zu funktionellen Beschwerden.
Ätiologie
Die Entstehung ist wahrscheinlich multifaktoriell bedingt. Genetische Faktoren, unsichere Bindungserfahrungen, chronische Überforderung in der Kindheit sowie psychische Traumatisierungen können prädisponierend wirken. Neurobiologische Ursachen wie eine Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) werden diskutiert, sind jedoch nicht ausreichend belegt.
Unterformen
Es existieren beschreibende Typisierungen der Neurosendisposition, die auf psychodynamischen Strukturmodellen beruhen:
| Neurosendisposition | Erklärung |
|---|---|
| altruistisch-depressive NDP | Selbstaufopferung, Schuldneigung und Überverantwortlichkeit |
| abhängige (dependente) NDP | Trennungsangst, geringes Autonomieerleben |
| ängstlich/vermeidend-selbstunsichere NDP | Kritikempfindlichkeit, sozialer Rückzug |
| zwanghafte/anankastische NDP | Perfektionismus, Regelorientierung, Rigidität |
| histrionische (hysterische) NDP | Expressivität, Suggestibilität, Anerkennungsbedürfnis |
| emotional-instabile NDP | Impulsivität, affektive Labilität |
| paranoide NDP | Misstrauen, Kränkbarkeit, feindselige Zuschreibungen |
| narzisstische NDP | schwankender Selbstwert, Grandiosität vs. Verletzlichkeit |
| passiv-aggressive/negativistische NDP | verdeckte Opposition, Ambivalenz |
| pseudounabhängige NDP | scheinbare Autonomie bei Bindungsbedürfnis |
Bedeutung
In der aktuellen wissenschaftlichen Psychologie (2026) hat das Konzept nur noch marginale Bedeutung. Es dient vorrangig in psychodynamischen Therapien und Gutachten zur Struktur- und Konfliktbeschreibung. Das Konzept ist nicht empirisch validiert, seine Verwendung bleibt auf psychotherapeutische Kontexte begrenzt.
Literatur
- Wöller und Kruse, Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Theorie und Praxis, Schattauer, 2016