Expertenkonsens
Englisch: expert consensus
Definition
Ein Expertenkonsens ist eine von mehreren Fachexperten getragene Empfehlung in Situationen begrenzter oder widersprüchlicher wissenschaftlicher Evidenz. Er dient dazu, auf Basis kollektiver fachlicher Erfahrung eine nachvollziehbare und klinisch praktikable Handlungsanweisung anzubieten, wenn robuste Studienergebnisse nicht verfügbar sind.
Hintergrund
Ein Expertenkonsens findet sich häufig in Leitlinien, Positionspapieren oder Handlungsempfehlungen verschiedener medizinischer Fachgesellschaften. In vielen klinischen Bereichen, besonders der Akutmedizin, Intensivmedizin oder bei seltenen Erkrankungen, existiert oft keine ausreichende Studienlage, um evidenzbasierte Empfehlungen zu treffen.
Damit medizinische Entscheidungen dennoch konsistent und nachvollziehbar bleiben, greifen Leitlinienentwickler auf strukturierte Konsensverfahren zurück. Diese reichen von moderierten Diskussionsrunden bis zu formalen Techniken wie Delphi-Verfahren oder nominalen Gruppenprozessen. Ziel ist eine möglichst objektivierte, breit getragene Empfehlung auf Basis kollektiver fachlicher Erfahrung und der bestehenden wissenschaftlichen Literatur.
In der AWMF-Leitlinienklassifikation ist der Expertenkonsens besonders in S2k- und S3-Leitlinien relevant. Auch S1-Leitlinien beruhen vollständig auf Expertenkonsens, allerdings ohne formale Konsensmethodik. S3-Leitlinien verlangen zusätzlich eine systematische Evidenzrecherche; die Empfehlungsformulierung erfolgt jedoch auch hier häufig im Rahmen strukturierter Konsensprozesse. Voraussetzung für einen Konsens ist eine Zustimmung von ≥ 75 % der Stimmberechtigten.[1]
Methodik
Zielgruppe: Festlegung, wer die Empfehlung anwenden soll (z.B. Intensivmediziner, Allgemeinmediziner etc.)
- Kontext bzw. Indikation: klinische Situation oder Fragestellung, die eine konsensbasierte Empfehlung erfordert
- Methodik des Konsenses: Beschreibung des Konsensverfahrens, z.B. Delphi-Technik, moderierter Konsensuskonferenz
- Konsensstärke: häufig angegeben als Prozentzahl der Zustimmung, z.B. ≥ 95 % für starken Konsens
- Empfehlungstext: konkrete Handlungsanweisung mit Formulierungen wie „soll“ oder „sollte“
- Begründung: transparente Darstellung der Argumente, klinischen Erfahrungen sowie der Gründe für fehlende Evidenz
- Evidenzlage: Kennzeichnung, dass die Empfehlung nicht oder nur teilweise evidenzbasiert ist, sondern primär auf Experteneinschätzungen beruht
Beispiele
- prähospitale Immobilisationstechniken bei Polytrauma
- Personalstruktur und Mindestanforderungen von Schockräumen
- Temperaturmanagement nach erfolgreicher Reanimation
Limitationen
Ein Expertenkonsens ist kein Ersatz für wissenschaftliche Evidenz. Er trägt das Risiko subjektiver Verzerrungen (Bias), Interessenkonflikte oder gruppendynamischer Effekte. Konsens ist nicht automatisch korrekt. Sobald neue Studien verfügbar werden, muss der Konsens überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Unterschiede zwischen Fachgesellschaften können zu divergierenden konsensbasierten Empfehlungen führen, was eine kritische Bewertung und klinische Einordnung erfordert.
Quellen
- ↑ Leitlinienprogramm Onkologie: Template Langversion 2019, zuletzt abgerufen am 10.12.2025