Patient H. M.
Definition
Der als Patient H. M. bekannt gewordene Henry Gustav Molaison (1926 - 2008) war ein Patient mit schwerer Epilepsie, dessen Therapieverlauf Grundlage für eine der bekanntesten neuropsychologischen Fallstudien der modernen Neurowissenschaften bietet.
Hintergrund
H. M. litt seit seiner Kindheit an schwerer, therapierefraktärer Epilepsie mit tonisch-klonischen Anfällen. Im Alter von 27 Jahren wurde 1952 eine bilaterale Resektion medialer Temporallappenanteile durchgeführt, bei der große Teile folgender Strukturen entfernt wurden:
- Hippocampus
- Amygdala
- Teile des Gyrus parahippocampalis
- Teile des entorhinalen Cortex
Durch die Operation konnten das Auftreten der tonisch-klonischen epileptischen Anfälle deutlich reduziert werden, während weiterhin gelegentlich fokale Anfälle auftraten. Nach dem Eingriff entwickelte H. M. eine ausgeprägte anterograde Amnesie, während das bis zum Zeitpunkt der Operation reichende deklarative Gedächtnis weitgehend erhalten blieb. Die Selbstständigkeit von H. M. war durch diese Operationsfolgen erheblich herabsetzt.
Der Fall gilt aus ethischer Perspektive als Mahnung für eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung bei praktisch allen neurochirurgischen Eingriffen, insbesondere im Bereich des medialen Temporallappens.
Neuropsychologische Befunde
Nach der bilateralen temporomedialen Lobektomie zeigten sich bei H. M. neuropsychologische Defizite, die insbesondere das deklarative Gedächtnis betrafen:
Anterograde Amnesie
H. M. war nach der Operation aufgrund einer massiven Störung der Gedächtniskonsolidierung nicht mehr in der Lage, neue episodische oder semantische Inhalte dauerhaft zu speichern. Beispielsweise konnte er sich auch nach wiederholtem Kontakt nicht an Orte oder Personen erinnern.
Zeitlich begrenzte retrograde Amnesie
Die retrograde Amnesie betraf das deklarative Gedächtnis der Jahre unmittelbar vor der Operation. Weiter zurückliegende autobiographische Erinnerungen blieben hingegen weitgehend intakt.
Erhaltenes Arbeitsgedächtnis und Intelligenz
Solange die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Tätigkeit oder Situation aufrechterhalten wurde, konnten unmittelbar darauf bezogene Inhalte erinnert werden (etwa die Wiederholung einer Zahlenfolge oder Namen von Personen). Aufgrund einer ausbleibenden Gedächtniskonsolidierung waren diese Erinnerungen allerdings nach wenigen Minuten erloschen.
Auch die Intelligenz von H.M., sein Sprachverständnis sowie seine sozialen Kompetenzen wurden nicht wesentlich beeinträchtigt.
Erhaltene prozedurale Lernfähigkeit
H. M. konnte neue motorische Fertigkeiten (z.B. Spiegelzeichnen) erlernen, obwohl er sich an ein vorhergehendes Training selbst nicht erinnerte und davon überzeugt war, die Tätigkeit zum ersten Mal auszuüben.
Diese Erkenntnis ist auf die dissoziierte Gedächtnisleistung zwischen deklarativem (via mediale Temporallappenanteile) und prozeduralem (u.a. via Basalganglien und Cerebellum) Lernen zurückzuführen.
Neurowissenschaftliche Bedeutung
Der Fall lieferte erstmals Klarheit über die zentrale Rolle des medialen Temporallappens sowie des Hippocampus für die Gedächtnisbildung. Die bis dato verbreitete Annahme, der Hippocampus fungiere als zentraler "Speicherort", ließ sich widerlegen; stattdessen konnte seine entscheidende Rolle in der Gedächtniskonsolidierung aufgezeigt werden.
Zudem wurde erstmals ein klarer Beleg für die Trennung von deklarativem und prozeduralem Gedächtnis erbracht. In der Folgezeit etablierte sich die Sicht, das Gedächtnis nicht mehr als einheitlichen Prozess zu verstehen, sondern als mehrere anatomisch und funktionell unabhängige Systeme zu betrachten.
Nicht zuletzt entwickelte sich der Fall H. M. aufgrund einer über fünf Jahrzehnte andauernden neuropsychologischen Längsschnittuntersuchung zu einem einzigartigen Modellfall für experimentelle Studien zum menschlichen Gedächtnis.
Post-mortem Analyse
Nach dem Tod von Henry Molaison († 2008; Veröffentlichung seines vollständigen Namens erst post-mortem, zuvor in Publikationen lediglich „Patient H. M.“) wurde sein Gehirn histologisch untersucht und digital rekonstruiert. Ziel war die genaue anatomische Dokumentation der Läsion, insbesondere im Hinblick auf den Hippocampus und (die größtenteils erhaltenen) assoziativen kortikalen Areale.
Literatur
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