Lipödem
Synonym: Reiterhosensyndrom
Englisch: lipedema
Definition
Das Lipödem ist eine chronisch-progrediente, schmerzhafte Fettverteilungsstörung, die nahezu ausschließlich bei Frauen auftritt. Charakteristisch ist eine symmetrische Zunahme des subkutanen Fettgewebes an Beinen, Hüften und häufig auch Armen, die mit Druckschmerz, Hämatomneigung und Ödemneigung einhergeht.
Geschichte
Das Lipödem wurde erstmals 1940 von Allen und Hines an der Mayo Clinic beschrieben.[1] Lange Zeit galt es als selten und wurde häufig als "Adipositas" fehldiagnostiziert. Erst seit den 1990er-Jahren wird es als eigenständiges Krankheitsbild in der deutschsprachigen Literatur stärker diskutiert. Mit wachsender Aufmerksamkeit durch Patientinnenverbände und wissenschaftliche Studien hat es in den letzten Jahren zunehmend Anerkennung als eigenständige Erkrankung und als Indikation für eine operative Therapie gefunden.
Epidemiologie
Die Prävalenz ist nicht genau bekannt. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 10 bis 15 % aller Frauen in unterschiedlicher Ausprägung betroffen sein könnten.[2] Männer erkranken nur in Einzelfällen, meist bei hormonellen Störungen oder genetischen Syndromen. Häufig manifestiert sich das Lipödem peri- oder postpubertär, seltener nach Schwangerschaft oder in der Menopause.
Ätiopathogenese
Die Ätiologie des Lipödems ist bislang (2025) nicht abschließend geklärt. Genetische Faktoren spielen eine wichtige Rolle; familiäre Häufungen sprechen für ein autosomal-dominantes Erbmodell mit unvollständiger Penetranz, auch wenn spezifische Gene bislang nicht identifiziert wurden. Der enge zeitliche Zusammenhang mit hormonellen Umbruchsituationen wie Pubertät, Schwangerschaft oder Menopause legt eine Beteiligung endokriner Faktoren nahe.
Pathohistologisch findet sich eine Hyperplasie und Hypertrophie der Adipozyten mit metabolischen Besonderheiten wie gesteigerter Lipogenese und inflammatorischen Veränderungen. Im betroffenen Gewebe wurden Anomalien der Angiogenese, eine erhöhte Kapillarpermeabilität sowie eine gesteigerte Kapillarfragilität nachgewiesen. Diese Veränderungen erklären die Hämatomneigung und die Neigung zu Flüssigkeitsextravasation, die im Verlauf die Lymphgefäße überlasten und zu einem sekundären Lipolymphödem führen können.
Die Genese der charakteristischen Druckschmerzen ist weiterhin unklar. Diskutiert werden mechanische Faktoren durch Gewebeexpansion, mikrovaskuläre Veränderungen sowie entzündliche und neuropathische Mechanismen.
Symptome
Das Leitsymptom des Lipödems ist eine symmetrische Fettgewebsvermehrung an den Beinen und/oder Armen. Typisch ist der abrupte Übergang zwischen betroffener und nicht betroffener Region, der sogenannte Kalibersprung. Hände, Füße und der Rumpf sind ausgespart, was die Abgrenzung zu Adipositas und Lymphödem erleichtert. Für die Verteilung der Fettvermehrung werden verschiedene Typen unterschieden, die auch kombiniert auftreten können. An den Beinen sind nahezu alle Patientinnen betroffen, wobei sich ein Gesäß-, Oberschenkel-, Unterschenkel-, Waden- und Ganzbein-Typ unterscheiden lassen. Etwa 30 % der Patientinnen zeigen zusätzlich eine Beteiligung der Arme. Auch hier können Oberarm-, Unterarm- und Ganzarm-Typ differenziert werden; ein isoliertes Arm-Lipödem ist dagegen praktisch nie zu beobachten.
Die disproportionale Fettverteilung führt dazu, dass auch bei gleichzeitig bestehender Adipositas eine auffällige Diskrepanz zwischen Oberkörper und Extremitäten sichtbar bleibt. Die Erkrankung verläuft chronisch-progredient, wobei die Geschwindigkeit des Fortschreitens individuell sehr unterschiedlich ist und nicht vorhergesagt werden kann. Im Spätstadium bilden sich häufig überhängende Fettwülste, sogenannte Wammen, die zusätzlich mechanisch und hygienisch belasten.
Neben der reinen Volumenzunahme stehen funktionelle Symptome im Vordergrund. Charakteristisch ist die Druckschmerzhaftigkeit des Gewebes, die nicht mit dem Ausmaß der Fettvermehrung korreliert. Viele Betroffene leiden unter einem permanenten Spannungsgefühl oder Spontanschmerzen, die sich bei langem Stehen, körperlicher Belastung oder hohen Temperaturen verstärken. Hinzu kommt eine ausgeprägte Hämatomneigung als Ausdruck einer vaskulären hämorrhagischen Diathese. Bereits geringfügige Traumata, etwa ein leichtes Anstoßen, führen zu Blutergüssen. Mit zunehmender Volumenzunahme treten mechanische Komplikationen auf: Hautfalten neigen zu Mazerationen und intertriginösen Ekzemen. Das zusätzliche Gewicht führt zu Achsfehlstellungen der Beine, vor allem Genua valga, was sekundär Arthrosen der Knie- und Sprunggelenke begünstigen kann.
Ein weiteres wichtiges Spätsymptom ist die Entstehung eines Lipolymphödems. Durch den chronisch erhöhten Gewebedruck und die gesteigerte Flüssigkeitsextravasation wird der lymphatische Abfluss zunehmend überlastet. Klinisch manifestiert sich dies als sekundäres Lymphödem mit Schwellungszunahme, positivem Stemmer-Zeichen und stärkerer Einschränkung der Mobilität.
Die psychische Belastung ist erheblich: Viele Betroffene leiden unter der Stigmatisierung durch die disproportionale Körperform, unter wiederholten Fehldiagnosen (etwa Adipositas) und unter frustranen Diätversuchen. Depressionen und Angststörungen sind häufige Begleiterkrankungen.
Stadieneinteilung
Zur klinischen Klassifikation des Lipödems wird eine Einteilung in drei Stadien verwendet, die sich am morphologischen Bild von Haut und Unterhautfettgewebe orientiert. Diese Stadien sind jedoch nicht linear-prognostisch: Manche Patientinnen verharren über Jahre im Stadium I, andere entwickeln relativ rasch ein fortgeschrittenes Krankheitsbild. Zudem korrelieren Schmerzen und funktionelle Beschwerden nicht immer mit dem Stadium, sodass die Einteilung zwar wichtig für die Beschreibung, aber nur eingeschränkt für die klinische Prognose nutzbar ist.
Stadium I
Im Stadium I zeigt sich eine gleichmäßig verdickte Subkutis mit einer noch glatten Hautoberfläche. Das Fettgewebe ist weich und homogen, kleine Knötchen lassen sich palpieren. Ödeme sind in dieser Phase meist noch reversibel und bilden sich nach Entlastung zurück.
Stadium II
Im Stadium II verändert sich das Hautrelief deutlich. Es wird uneben und wellig, oft mit dem Bild einer ausgeprägten "Orangenhaut". In der Subkutis finden sich gröbere, walnuss- bis apfelgroße Knoten. Die Haut wirkt teigig. Die Ödeme sind in diesem Stadium nicht mehr vollständig reversibel.
Stadium III
Im Stadium III liegt eine massive Gewebevermehrung mit groben, verhärteten Knoten und großen, überhängenden Fettlappen vor, die als "Wammen" bezeichnet werden. Das Gewebe ist induriert und verhärtet, die Konturen sind stark deformiert. Häufig treten mechanische Probleme, Hautirritationen in den Falten und orthopädische Folgeschäden wie Genua valga und Arthrosen hinzu.
Diagnostik
Die Diagnose des Lipödems ist in erster Linie eine klinische Diagnose. Sie stützt sich auf die typische Symptomkonstellation aus disproportionaler Fettgewebsvermehrung, Druckschmerz und Hämatomneigung. Der Krankheitsbeginn in hormonellen Umbruchsituationen (Pubertät, Schwangerschaft, Menopause) sowie das Fehlen einer relevanten Besserung trotz Diäten oder körperlicher Aktivität liefern zusätzliche Hinweise.
Bei der körperlichen Untersuchung zeigt sich die charakteristische symmetrische Vermehrung des Unterhautfettgewebes an den Extremitäten, während Hände und Füße ausgespart bleiben. Der abrupte Übergang an Knöcheln oder Handgelenken, der sogenannte Kalibersprung, gilt als klassisches klinisches Merkmal. Das Gewebe ist palpatorisch verdickt, häufig knotig, und in aller Regel deutlich druckschmerzhaft. Das Ausmaß der Schmerzen korreliert nicht mit der Menge des Fettgewebes.
Ein wichtiges diagnostisches Kriterium ist das Stemmer-Zeichen: Es ist beim isolierten Lipödem negativ, da keine initiale Beteiligung der Akren vorliegt. Erst bei einem sekundären Lymphödem (Lipolymphödem) kann es positiv werden.
Zur objektiven Beurteilung können radiologische Verfahren wie Sonografie und MRT (inklusive MRT-Lymphangiografie) eingesetzt werden, vor allem bei unklarer Abgrenzung oder Verdacht auf Mischformen. Diese Verfahren zeigen typischerweise eine Verdickung der Subkutis mit erhöhter Flüssigkeitskomponente.
Differenzialdiagnosen
Das Lipödem ist abzugrenzen von:
- Adipositas: gleichmäßige, generalisierte Fettvermehrung ohne Druckschmerzhaftigkeit oder Hämatomneigung.
- Primäres oder sekundäres Lymphödem: oft unilateral, positives Stemmer-Zeichen und Beteiligung der Füße oder Hände.
- Chronisch-venöse Insuffizienz: geht mit Ödemen, aber typischerweise nicht mit den charakteristischen Schmerzen und Hämatomen einher.
Therapie
Die Behandlung des Lipödems verfolgt zwei Ziele:
- Linderung der typischen Beschwerden
- Reduktion der funktionellen Einschränkung und psychosozialen Belastung.
Das therapeutische Vorgehen beruht auf einem multimodalen Konzept.
Konservative Therapie
Die Kompressionstherapie ist das zentrales Element. Flachgestrickte Kompressionsstrümpfe oder -hosen reduzieren Ödeme, verringern das Spannungsgefühl und verbessern die Belastbarkeit im Alltag. Sie müssen konsequent und oft lebenslang getragen werden. Ergänzend kann eine manuelle Lymphdrainage sinnvoll sein, insbesondere bei ausgeprägter Ödemkomponente oder beim Übergang zum Lipolymphödem.
Bewegungstherapie (v.a. Radfahren, Schwimmen oder Aquafitness) unterstützt den venösen und lymphatischen Rückfluss, fördert die Muskelpumpe und wirkt sich positiv auf das Körpergewicht aus. Eine ernährungsmedizinische Betreuung ist bei gleichzeitig bestehender Adipositas unverzichtbar, auch wenn eine Gewichtsreduktion das Lipödemgewebe selbst nicht entscheidend beeinflusst.
Operative Therapie
Die Liposuktion stellt die einzige ursächlich ansetzende Therapieoption dar. Ziel ist die dauerhafte Entfernung des krankhaft vermehrten Fettgewebes, wodurch Schmerzen, Hämatomneigung und funktionelle Einschränkungen deutlich reduziert werden können. Langzeitstudien belegen eine anhaltende Symptomverbesserung und eine Verbesserung der Lebensqualität. Häufig bleibt jedoch eine ergänzende konservative Therapie mit Kompression und Bewegungstherapie sinnvoll, um das Operationsergebnis langfristig zu stabilisieren. Seit 2025 ist eine Kostenübernahme der Liposuktion durch die GKV möglich, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
Quellen
- ↑ Allen, Hines: "Lipedema of the legs; a syndrome characterized by fat legs and edema". Ann Intern Med. 1951 May;34(5):1243-50. doi: 10.7326/0003-4819-34-5-1243. PMID: 14830102.
- ↑ Kruppa, Georgiou, Biermann, Prantl, Klein-Weigel, Ghods: "Lipödem – Pathogenese, Diagnostik und Behandlungsoptionen". Deutsches Ärzteblatt, 22-23/2020.
Literatur
- Langendoen SI, Habbema L, Nijsten TE, Neumann HA. Lipoedema: from clinical presentation to therapy. A review of the literature. Br J Dermatol. 2009
- Buso G et al. Lipedema: A Call to Action!. Obesity (Silver Spring). 2019
- Cifarelli V. Lipedema: Progress, Challenges, and the Road Ahead. Obes Rev. Published online May 27, 2025
- Felmerer G, Stylianaki A, Hägerling R, et al. Adipose Tissue Hypertrophy, An Aberrant Biochemical Profile and Distinct Gene Expression in Lipedema. J Surg Res. 2020