Frühgeborenen-Retinopathie
Synonyme: Retinopathia praematurorum, RPM, Retrolentale Fibroplasie, RLF, ROP
Englisch: Retinopathy of Prematurity
Definition
Die Frühgeborenen-Retinopathie, kurz RPM oder ROP, ist definiert als eine Netzhautschädigung bei Frühgeborenen. Ursache ist eine gestörte Blutgefäßentwicklung der Retina aufgrund der Unreife des Frühgeborenen.
Epidemiologie
Ätiologie
Sauerstoff, wie zur Beatmung Frühgeborener verwendet, wirkt auf die Blutgefäße der Retina toxisch. Weitere Risikofaktoren für die Entstehung einer Frühgeborenen-Retinopathie sind die Hyperkapnie und die Durchführung mehrerer Bluttransfusionen bzw. einer Blutaustauschtransfusion.
Pathogenese
Ist der Sauerstoffpartialdruck erhöht, erfolgt in den retinalen Gefäßen zunächst eine Vasokonstriktion. Bei anhaltend erhöhten Sauerstoffpartialdrücken kommt es zu einer Hemmung der physiologischen Gefäßentwicklung und zur Obliteration bereits bestehender Gefäße. In der Folge entsteht retinal eine relative Hypoxie, die einen Umbauprozess auslöst, bei dem durch die vermehrte Freisetzung von Wachstumsfaktoren wie VEGF das Wachstum neuer, pathologischer Gefäße angeregt wird. Je nach Schwere des Verlaufs ist entweder ein variabler peripherer Anteil der Retina oder aber die gesamte Netzhaut mit neu sprossenden Gefäßen überzogen. Die neuen Blutgefäße können in den Glaskörper einwachsen und durch fibrovaskuläre Proliferation Zug auf die Netzhaut ausüben, durch den es zur Netzhautablösung kommt. Eine weitere Komplikation ist die Ausbildung eines sekundären Glaukoms, das durch Vorderverlagerung von Iris und Linse, Kammerwinkelverlegung und ggf. Synechien begünstigt wird.
Klassifikation
Die Frühgeborenen-Retinopathie wird gemäß der "International Classification of Retinopathy of Prematurity" eingeteilt.[2]
Stadium
Die Einteilung erfolgt in fünf Stadien:
- Stadium 1: grau-weißliche Demarkationslinie zwischen vaskularisierter und avaskulärer Retina
- Stadium 2: erhabener Grenzwall ("Ridge") zwischen vaskularisierter und avaskulärer Netzhaut
- Stadium 3: extraretinale fibrovaskuläre Proliferation am Rand des Grenzwalls; neu gebildete Gefäße und begleitendes Bindegewebe wachsen aus der Retina in den Glaskörperraum
- Stadium 4: partielle Netzhautablösung
- 4A: ohne Beteiligung der Makula
- 4B: mit Beteiligung der Makula
- Stadium 5: Komplette (trichterförmige) Netzhautablösung.
Zonen
Neben der Stadieneinteilung werden zur vollständigen Beschreibung der Frühgeborenen-Retinopathie weitere Klassifikationsmerkmale herangezogen, die für Prognose und Therapieentscheidung von entscheidender Bedeutung sind. Die Retina wird in drei konzentrische Zonen eingeteilt, die sich an der Papille und der Makula orientieren:
- Zone I: kreisförmiger Bereich mit Radius vom Doppelten des Abstands zwischen Papille und Fovea; umfasst die posteriore Netzhaut und ist mit einem besonders hohen Risiko für einen schweren Verlauf assoziiert
- Zone II: reicht von der Grenze der Zone I bis zur nasalen Ora serrata; die Mehrzahl der klassischen Frühgeborenen-Retinopathien ist hier lokalisiert
- Zone III: temporaler, peripherer Netzhautbereich; Befunde in dieser Zone sind häufig milder und weisen eine höhere Spontanregressionsrate auf
Plus-Symptomatik
Zusätzlich wird das Auftreten einer sog. Plus-Symptomatik ("Plus Disease") geprüft. Als Plus-Symptomatik bezeichnet man eine ausgeprägte Dilatation und Tortuositas der retinalen Gefäße im posterioren Pol, meist begleitet von weiteren Zeichen wie Glaskörpertrübungen, Irisgefäßdilatation, Pupillenrigidität oder flacher Vorderkammer. Das Vorliegen einer Plus Disease ist ein zentrales Kriterium für die Therapieindikation.
Aggressive Frühgeborenen-Retinopathie
Die aggressive Frühgeborenen-Retinopathie (A-ROP) ist eine besonders fulminante Verlaufsform, die typischerweise in Zone I oder Zone II auftritt und durch eine rasche Progression mit früh ausgeprägter Plus-Symptomatik gekennzeichnet ist. Klassische Stadien können dabei nur unvollständig oder gar nicht ausgebildet sein. Diese Form erfordert eine sofortige therapeutische Intervention.
Klinik & Diagnostik
Frühgeborene werden bei einer Retinopathie nicht primär auffällig. Gefährdete Neugeborene sollten daher möglichst mit moderaten Sauerstoffpartialdrücken beatmet werden und zeitgerecht Kontrolluntersuchungen bei einem auf dem Gebiet erfahrenen Augenarzt zugeführt werden. Neonatologische Kliniken haben zu diesem Zweck Screening-Programme entwickelt und arbeiten interdisziplinär mit Augenärzten zusammen.
Im Regelfall sind beide Augen betroffen, wobei Asymmetrien durchaus üblich sind. Erste Veränderungen sind nach etwa 3 Wochen sichtbar, ein ausgeprägter Befund ist etwa zum normalen errechneten Geburtstermin zu erwarten. Monate nach der Geburt beginnen die Vernarbungen.
Therapie
Milde Formen der Frühgeborenen-Retinopathie (Stadium 1 und 2 ohne Plus-Symptomatik) können sich spontan zurückbilden und werden zunächst kontrolliert. Bei drohender Progression zu einer behandlungsbedürftigen Retinopathie (insbesondere bei Vorliegen einer Plus-Symptomatik oder höhergradigen Stadien) ist eine Therapie indiziert. Dabei kann eine Laserphotokoagulation der avaskulären peripheren Retina durchgeführt werden, um den hypoxiebedingten Wachstumsreiz und die weitere Neovaskularisation zu unterbinden.
Alternativ oder ergänzend kann in ausgewählten Fällen, insbesondere bei posteriorer oder aggressiver Frühgeborenen-Retinopathie, eine intravitreale Therapie mit VEGF-Inhibitoren (z.B. Ranibizumab, Aflibercept oder Bevacizumab) eingesetzt werden. Diese erfordert aufgrund möglicher Spätrezidive eine engmaschige und langfristige augenärztliche Nachsorge. Die Auswahl der jeweiligen Therapie orientiert sich am Stadium und den individuellen Gegebenheiten im Einzelfall.[1]
Bei bereits eingetretener Netzhautablösung sind operative Maßnahmen angezeigt, deren anatomische und funktionelle Ergebnisse je nach Stadium variieren und insgesamt begrenzt sein können.
Unbehandelt kann die Frühgeborenen-Retinopathie in eine Blindheit münden. Spätkomplikationen auch milderer oder behandelter Verläufe sind unter anderem Myopie, Strabismus und ein sekundäres Glaukom. Selten sind auch späte Netzhautablösungen nach mehreren Jahren beschrieben. Eine regelmäßige augenärztliche Betreuung und Kontrolle ist daher dringend zu empfehlen.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Bertram et al: S1-Leitlinie Therapie der Frühgeborenenretinopathie, 2025, zuletzt abgerufen am 23.12.2025
- ↑ Chiang et al.: International Classification of Retinopathy of Prematurity, 3rd edition. Ophthalmology, 2024