Zwangsmaßnahme
Definition
Unter Zwangsmaßnahmen werden in der Medizin alle freiheitsentziehenden bzw. -beschränkenden Handlungen verstanden, die gegen den erklärten Willen einer einwilligungsunfähigen oder uneinsichtigen Person durchgeführt werden. Sie dienen bei einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung dazu, einen erheblichen Gesundheits- oder Lebensschaden abzuwenden.
Rechtliche Grundlagen
Betreuungsrecht (BGB)
Ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines Betreuungsverfahrens setzen eine gerichtliche Genehmigung voraus. Nach § 1832 BGB (bis 31.12.2022 § 1906a BGB) darf eine solche Maßnahme nur erfolgen,
- wenn der Betreute krankheitsbedingt die Notwendigkeit nicht erkennen kann,
- ein ernsthafter Versuch unternommen wurde, ihn zu überzeugen,
- kein milderes Mittel verfügbar ist und
- der Nutzen die Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.
Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKG) der Länder
Für die Unterbringung und Behandlung nicht einwilligungsfähiger psychisch kranker Personen gilt landesrechtlich jeweils ein PsychKG. Diese Gesetze regeln Zwangseinweisungen, Fixierungen und Zwangsmedikation ("Besondere Sicherungsmaßnahmen") und verlangen in der Regel einen richterlichen Beschluss, der bei Gefahr in Verzug binnen 24 Stunden nachzuholen ist.
UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)
Deutschland ist verpflichtet, die Selbstbestimmung und Nichtdiskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu wahren. Jede Zwangsmaßnahme muss verhältnismäßig sein und den Willen des Betroffenen, soweit er feststellbar ist, berücksichtigen.
Indikationen
Zwangsmaßnahmen dürfen nur bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung angewendet werden. Typische Situationen sind:
- Schwere psychotische Episoden mit Aggression oder Selbstverletzung
- Manische Phasen mit impulsivem, gefährdendem Verhalten
- Lebensbedrohliche Essstörungen, wenn Patientinnen/Patienten Nahrung strikt verweigern
- Notfallmedizinische Situationen, in denen Einsichts- und Kooperationsunfähigkeit vorliegen
Formen
Unterschieden werden juristisch die Freiheitsbeschränkung und die Freiheitsentziehung. Vereinfacht gesprochen, ist die Freiheitsbeschränkung eine zeitlich und räumlich begrenzte Zwangsmaßnahme, während der Patient bei einer Freiheitsentziehung über einen längeren Zeitraum festgehalten wird.
Um eine Freiheitsentziehung handelt es sich beispielsweise bei der Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung (Zwangseinweisung). Die Fixierung eines Patienten (z.B. 7-Punkt-Fixierung, 5-Punkt-Fixierung, Bettgurt) kann abhängig von ihrer Dauer und Intensität sowohl als Freiheitsbeschränkung als auch als Freiheitsentziehung eingeordnet werden.
Von Einschränkungen der körperlichen Bewegungsfreiheit abgegrenzt wird die Zwangsbehandlung bzw. -medikation. Sie ist ein medizinischer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten und unterliegt strengen Rahmenbedingungen. Dazu zählen z.B. Applikation von Psychopharmaka gegen den Willen des Patienten oder die Zwangsernährung.
Durchführung und Dokumentation
Jede Zwangsmaßnahme erfordert große Sorgfalt in der Durchführung und Dokumentation. Zu berücksichtigen sind:
- Verhältnismäßigkeit: Jede Maßnahme muss geeignet, erforderlich und angemessen sein.
- Ärztliche Anordnung: Zwangsmaßnahmen bedürfen einer schriftlichen ärztlichen Anordnung mit Begründung.
- Richterliche Genehmigung: Soweit gesetzlich vorgeschrieben, ist vor Durchführung ein Richtervorbehalt zu beachten; bei Gefahr in Verzug folgt die Genehmigung spätestens binnen 24 Stunden.
- Dokumentation: Beginn, Art, Dauer und Begründung jeder Maßnahme sind lückenlos zu dokumentieren; Entlassung oder Beendigung ist sofort festzuhalten.
- Nachträgliche Überprüfung: Betreuungsgericht oder Aufsichtsbehörde prüfen regelmäßig die Zulässigkeit und Fortdauer.
Risiken
Zwangsmaßnahmen können eine schwere psychische Traumatisierung auslösen und sind entsprechend umsichtig einzusetzen. Es ist stets eine Abwägung zwischen Schutzverantwortung und Selbstbestimmungsrecht erforderlich. Unzulässige Zwangsmaßnahmen können für den Behandler erhebliche zivil- und strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
LIteratur
- Steinert T, Hirsch S, Flammer E, et al; Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. S3-Leitlinie. AWMF-Register Nr. 038-022; 2018. Accessed June 16, 2025. https://register.awmf.org/leitlinien/detail/038-022
- Henking T, Vollmann J, editors. Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen: Ein Leitfaden für die Praxis. Springer; 2015. doi:10.1007/978-3-662-47042-8