Nozizeption
von lateinisch: nocere - schaden
Synonyme: Schmerzrezeption, Schmerzwahrnehmung
Englisch: nociception
Definition
Unter Nozizeption versteht man die Wahrnehmung von Schmerzen. Die für diesen Vorgang verantwortlichen Rezeptoren nennt man Nozizeptoren. Als freie Nervenendigungen der sensiblen Neurone des Rückenmarks kommen Nozizeptoren in allen schmerzempfindlichen Geweben des Körpers vor.
Begriffsabgrenzung
Nozizeption und Schmerz sind 2 verschiedene Entitäten:
- Nozizeption bezeichnet den Erhalt von Signalen im ZNS, die von spezialisierten sensorischen Rezeptoren (Nozizeptoren) vermittelt werden und Informationen über Gewebeschäden liefern.
- Schmerz ist ein unangenehmes, heftiges Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsächlichen oder drohenden Gewebeschäden verbunden ist.
Nozizeption ist ohne Schmerz möglich, Schmerz aber nicht ohne Nozizeption. Von diesem Leitsatz ausgenommen sind der neuropathische und psychogene Schmerz, die unabhängig von der Aktivierung der Nozizeptoren zu einem Schmerzempfinden führen.
Schmerztypen
Abhängig von ihrer Lokalisation sind Nozizeptoren Auslöser unterschiedlicher Schmerzarten:
Somatischer Schmerz
Oberflächenschmerz
Als Oberflächenschmerz wird der Schmerz bezeichnet, der von oberflächlich in der Haut gelegenen Nozizeptoren wahrgenommen wird. Die Schmerzlokalisation ist eindeutig dem geschädigten Gebiet zuzuordnen.
Tiefenschmerz
Der Tiefenschmerz untergliedert sich je nach Lage der Nozizeptoren in:
- Muskelschmerzen und
- Knochenschmerzen (Lokalisation im Periost)
Der Tiefenschmerz ist deutlich schlechter lokalisierbar. Dies liegt an der unterschiedlichen Fasercharakteristik und den unterschiedlichen Projektionsgebieten der Schmerzfasern (s.u.).
Viszeralschmerz
Bei Viszeralschmerzen liegt die Lokalisation der Nozizeptoren innerhalb der inneren Organe. Klassische Beispiele sind Nieren- oder Gallenkoliken, die durch Dehnungsreize der glatten Muskulatur hervorgerufen werden.
Histologie
Histologisch lassen sich Nozizeptoren aufgrund unterschiedlicher Fasereigenschaften klassifizieren in C-Fasern und Aδ-Fasern.
C-Fasern/Klasse-IV-Fasern
C-Fasern, die auch als Klasse-IV-Fasern bezeichnet werden, sind unmyelinisiert, ihre Ummantelung durch Schwann-Zellen ist stellenweise unterbrochen. Ihre Leitungsgeschwindigkeit ist daher mit 1 m/s nur sehr gering.
siehe auch: C-Faser
Aδ-Fasern/Klasse-III-Fasern
Aδ-Fasern sind dünn myelinisiert. Ihre Leitungsgeschwindigkeit ist mit bis zu 30 m/s schneller als die der C-Fasern. Sie können weiter unterteilt werden in Typ-I-Aδ-Nozizeptoren, die auf Temperaturen über 52 °C reagieren, und Typ-II-Aδ-Nozizeptoren, die auf Temperaturen über 43 °C reagieren.
siehe auch: Aδ-Faser
Schmerzwahrnehmung in Abhängigkeit von Fasereigenschaften
Bei der Schmerzwahrnehmung als Antwort auf eine oberflächliche Gewebsschädigung lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Faserqualitäten auch zwei verschiedene Schmerzsensationen unterscheiden. Diese sind auf die unterschiedlichen Leitungseigenschaften der Nozizeptoren zurückzuführen. Als erste Antwort erfolgt der frühe "helle" Schmerz, der schnell leitenden Aδ-Fasern. Danach tritt der durch die C-Fasern vermittelte späte "dumpfe" Schmerz auf.
Durch C-Fasern wird auch der als dumpf empfundene Tiefenschmerz hervorgerufen.
Oberflächliche C-Fasern im Übergangsbereich von Epidermis und Dermis mediieren den bei Dermatosen (z.B. Psoriasis) als eines der Hauptsymptome auftretenden pruritozeptiven Pruritus.
Physiologie
Jedem Nozizeptor lässt sich ein spezifisches Gebiet (rezeptives Feld) zuweisen, innerhalb dessen schmerzauslösende Reize zur Entstehung eines Aktionspotentials führen.
Reizmodalitäten
Nozizeptoren sind für unterschiedliche Reizmodalitäten sensibel. Gemäß ihres Ansprechverhaltens unterscheidet man:
- Polymodale Nozizeptoren: Sie reagieren auf mechanische (z.B. Druck), thermische und chemische Reize. Je nach Fasereigenschaften lassen sie sich weiter differenzieren in:
- A-polymodale Nozizeptoren und
- C-polymodale Nozizeptoren
- Mechanonozizeptoren: Sie reagieren ausschließlich auf mechanische Reize.
- Stumme Nozizeptoren: Stumme Nozizeptoren sind im gesunden Gewebe nicht erregbar. Im Rahmen von Entzündungen werden sie jedoch durch Herabsetzung der Reizschwelle sensitiv für Schmerzreize.
Transduktion
Die neuronale Transduktion der Nozizeptoren erfolgt auf Grundlage verschiedener Ionenkanäle der Nozizeptormembran. Jeder Kanal ist spezifisch für bestimmte Reize. Die Exposition gegenüber einem schmerzauslösenden Reiz bewirkt die Öffnung des jeweiligen Kanals. Es kommt zum Einstrom von Kationen (Na+, Ca2+) und somit zu einer intrazellulären Änderung des Ionenmilieus. Spannungsabhängig öffnen sich Natriumkanäle, es kommt zur Depolarisation.
Kanäle
- Mechanisch-chemische Transduktion: Die Kanäle der mechanischen Transduktion sind noch nicht eindeutig identifiziert.
- Thermisch-chemische Transduktion: Die thermische Transduktion erfolgt meist mittels polymodalen TRPV-Kanälen (transient receptor potential vanilloid receptors). Aufgrund unterschiedlicher Reizmodalitäten werden verschiedene Rezeptor-Subtypen unterschieden.
- TRPV1-Kanäle: öffnen bei Temperaturen > 42 °C und sind zudem capsaicinsensibel. Capsaicin ist in Pfeffer, scharfer Paprika und Chilli enthalten und verantwortlich für das Schärfeempfinden. Das Schärfeempfinden ist also nicht auf den Geschmackssinn, sondern auf Schmerzrezeptoren zurückzuführen.
- TRPV2-Kanäle: öffnen bei Temperaturen > 52 °C und sind nicht capsaicinsensitiv.
- TRPA1-Kanäle: werden durch verschiedene Moleküle (z.B. Allylisothiocyanat, Wasserstoffperoxid oder 4-Hydroxynonenal) sowie ggf. durch Kälte aktiviert.
- TRPM8-Kanäle: öffnen bei Temperaturen < 25 °C, sowie bei Bindung von Menthol.
- Chemische Reizung: Ein Abfall des pH-Wertes führt zur Öffnung säuresensitiver Kanäle (ASIC = acid sensing ion channels). Dies geschieht bei Säureexposition, aber auch bei Anhäufung saurer Metabolite im Gewebe als Folge einer Ischämie (z.B. Herzinfarkt).
- Entzündungsbedingte Sensibilisierung: Darüberhinaus verfügt die Nozizeptorenmembran über eine Vielzahl von Rezeptoren für Entzündungsmediatoren (Bradykinin, Histamin, Prostaglandine, Zytokine, H+-Ionen, K+-Ionen), die durch Herabsetzung der Reizschwelle den Nozizeptor sensibilisieren. Im Normalzustand sind Nozizeptoren hochschwellige Rezeptoren, es bedarf eines hochschwelligen Reizes zur Auslösung eines Aktionspotentials. Bei Entzündungen verursacht die Sensibilisierung eine primäre Hyperalgesie. Hinzu kommt eine zusätzliche Rekrutierung stummer Nozizeptoren, die durch die Sensibilisierung thermo- und mechanosensitive Fähigkeiten erlangen. Der zelluläre Mechanismus der Sensibilisierung beruht auf enzymatischer Phosphorylierung der Ionenkanäle durch Proteinkinasen.
Innerhalb der Schmerztherapie lässt sich die Sensibilisierung der Nozizeptoren durch nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAR) abdämpfen. NSAR hemmen als unspezifische Inhibitoren der Cyclooxigenase (COX-1 und COX-2) die Prostaglandinsynthese.
Schmerzleitung
Periphere Schmerzleitung
Die Weiterleitung des Aktionspotentials erfolgt über den Dendriten des sensiblen Neurons (1. Neuron; pseudounipolares Neuron). An der Gabelung von Dendrit und Axon (Crus commune) wird es unter Umgehung des Perikaryons direkt auf das Axon weitergeleitet, welches in das Hinterhorn des Rückenmarks (Cornu posterius medullae spinalis) eintritt. Hier erfolgt in den Schichten I-III (Laminae spinales I-III) der grauen Substanz (Substantia grisea) die Umschaltung auf das zweite Neuron.
Verschaltung auf Rückenmarksebene
- Aδ-Fasern werden insbesondere in der Schicht I (Lamina spinalis I) der grauen Substanz auf Neurone mit aufsteigenden Fasern umgeschaltet.
- C-Fasern haben einen längeren Weg. Sie werden in den Schichten II und III zunächst auf segmentaler Rückenmarksebene über Interneurone mit Neuronen der Schicht V verschaltet.
Zentrale Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung
Gemeinsam ziehen die Schmerzafferenzen des Rückenmarks im Vorderseitenstrang (Tractus anterolaterales/Lemniscus spinalis) zu supraspinalen Zentren, in denen reflektorisch körperliche Reaktionen ausgelöst (Formatio reticularis), der Schmerz affektiv bewertet (limbisches System) und die Lokalisation (somatosensorischer Cortex) ermöglicht wird. Höhere Hirnzentren sind durch deszendierende antinozizeptive Bahnen umgekehrt auch zur Beeinflussung der Schmerzwahrnehmung (Schmerzmodulation) befähigt.