Bürokratie im Gesundheitswesen
Definition
Die Bürokratie im Gesundheitswesen ist die Gesamtheit aller formalen Regeln, Vorschriften und Dokumentationspflichten, die von staatlichen oder nicht-staatlichen Verwaltungsapparaten im Gesundheitswesen implementiert werden. Sie reguliert und steuert das Handeln von Angehörigen der Gesundheitsberufe sowie von Arzneimittel- oder Medizinprodukteherstellern. Bürokratie dient einerseits der Qualitätssicherung, Haftungsprävention und Kostentransparenz, andererseits bindet sie wertvolle Systemressourcen und kann zur Frustration der Marktteilnehmer führen.
Geschichte
Nach Gründung der Bundesrepublik 1949 entstand das duale System aus gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und berufsständisch organisierter Ärzteschaft. Mit jedem Aus- und Umbau sozialgesetzlicher Regelungen – insbesondere mit Inkrafttreten des SGB V (1989) – wuchsen Umfang und Komplexität der Abrechnungs‑ und Dokumentationsanforderungen. Beispiele sind:
- Einführung der Fallpauschalen (G‑DRG) in Kliniken ab 2003, verbunden mit detaillierter Kodierungs- und Abrechnungsdokumentation.
- Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) mit Nutzenbewertung und zusätzlicher Nachweispflicht.
- Ausbau der Telematikinfrastruktur (TI) ab 2004 und verpflichtende Digitalisierungsschritte (elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, e-Rezept, elektronische Patientenakte).
Treiber
Treiber der Bürokratisierung sind im Wesentlichen der Staat mit seinen Gesetzen und Verordnungen sowie die Kostenträger bzw. Krankenkassen mit ihren Abrechnungsanforderungen. Reaktiv tragen aber auch die Körperschaften der Leistungserbringer (z.B. Kassenärztliche Vereinigungen) zur Bürokratisierung bei.
Die Bürokratisierung resultiert in erster Linie aus dem Bedürfnis nach Reduktion bzw. Deckelung der Gesundheitskosten. In der Regel werden zur Regulierung keine dezentralen, marktwirtschaftlichen Mechanismen genutzt, sondern zentrale, dirigistische Maßnahmen gewählt. Auf diese Weise entsteht ein ökonomisches Mischsystem, in dem der Staat auf Ausweichbewegungen der Marktteilnehmer mit weiterem Dirigismus reagiert. Die Komplexität des Systems nimmt dabei kontinuierlich zu, die Übersichtlichkeit und Verständlichkeit der Steuerungslogik ab.
Auswirkungen auf das medizinische Personal
Untersuchungen des Marburger Bundes zeigen, dass angestellte Ärzte bzw. Ärztinnen neben einem steigenden Aufgabenpensum durchschnittlich drei Stunden pro Tag für Verwaltungs‑ und Dokumentationsaufgaben aufwenden müssen.[1]
Folge sind:
- Zeitverlust für Patientenversorgung, da weniger Zeit für direkte Betreuung bleibt.
- Arbeitsüberlastung und Unzufriedenheit bei fast der Hälfte der Befragten (49 %)
- Fachkräftemangelverstärkung, da über ein Viertel der Klinikärzte über einen Berufswechsel nachdenkt.
Auswirkungen auf die Patientenversorgung
Patienten- und Ärzteverbände warnen, dass übertriebene Dokumentationspflichten die Versorgungsqualität gefährden und das Arzt‑Patient-Verhältnis belasten, da weniger Zeit für Kommunikation und individuelle Betreuung bleibt.
Reformbestrebungen
- Das BMG hat 2023 einige Vorschläge zur Entbürokratisierung veröffentlicht. Beispielsweise sollen Kinderärzte Entlastung erhalten, indem ärztliche Atteste zur Krankmeldung erst ab dem 4. Krankheitstag nötig sind (Änderung von § 45 SGB V).[2]
- Desweiteren wurden Vorschläge zur Abschaffung der DEMIS‑Bettenmeldepflicht, zur Reduktion klinikspezifischer Meldeformulare und zur Einführung eines bundeseinheitlichen Formularsystems im Krankenhausbereich gemacht.[2] Ihre Umsetzung steht aus.
- Das Bürokratieabbaugesetz (BEG IV, Jan. 2023) enthält allgemeine Erleichterungen (kürzere Aufbewahrungsfristen, mehr Textform), aber wenige konkrete Maßnahmen für das Gesundheitswesen.[3]
- Die Elektronische Patientenakte (ePA) soll redundante Dokumentation vermeiden. Erste Pilotprojekte (seit 2023) zeigten jedoch gemischte Resultate, da Systemzuverlässigkeit und Nutzerakzeptanz oft fehlen.
- KV‑regionale Initiativen schlagen formfreie Anfragen zur Reduktion spontaner Schriftanfragen und eine durchgängige PVS‑Integration vor. Das errechnete Einsparpotenzial soll bei mehreren Millionen Arztstunden jährlich liegen.[4]
Ausblick
Die Bürokratisierung im Gesundheitswesen ist ein weitgehend autonomer Prozess, der wahrscheinlich nur durch Disruption bzw. Systemausstieg beeinflusst werden kann. Die konsequente Digitalisierung des Gesundheitswesens wird nur zur Entbürokratisierung beitragen, wenn gleichzeitig die Komplexität der Prozesse reduziert wird. Dafür gibt es derzeit (2025) keine Indikation.
Quellen
- ↑ MB-Monitor 2024: Arbeitsbelastung von Ärztinnen und Ärzten auf neuem Höchststand
- ↑ 2,0 2,1 Eckpunktepapier zum Bürokratieabbau im Gesundheitswesen (Empfehlungen nach § 220 Absatz 4 SGB V)
- ↑ Eckpunkte für ein Bürokratieentlastungsgesetz, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV), 2023.
- ↑ Entbürokratisierung entlastet Praxen und Kostenträger – Formfreie Anfragen: heute Zettelwust, morgen digital (2025)