Parentifizierung
Definition
Parentifizierung ist ein Begriff der Familientherapie und bezeichnet ein dysfunktionales Beziehungsmuster, bei dem Kinder dauerhaft Aufgaben, Verantwortlichkeiten oder emotionale Funktionen übernehmen, die eigentlich den Eltern zustehen.
Hintergrund
Die durch Parentifizierung entstehende Rollenumkehr führt zu einer Überforderung des Kindes, das eigene entwicklungsbezogene Bedürfnisse zugunsten elterlicher oder familiärer Anforderungen zurückstellt. Der Begriff geht auf konzeptuelle Arbeiten von Boszormenyi-Nagy zurück und wurde insbesondere durch Jurkovic theoretisch und empirisch weiterentwickelt.
Formen
Man unterscheidet zwei zentrale Ausprägungen. Bei der instrumentellen Parentifizierung übernimmt das Kind praktische oder organisatorische Aufgaben, etwa Haushaltsführung oder die Versorgung jüngerer Geschwister. Die emotionale Parentifizierung beschreibt die Funktion des Kindes als emotionale Stütze, Vermittler oder Berater eines Elternteils. Jurkovic differenziert zudem zwischen konstruktiver Parentifizierung, die zeitlich begrenzt und entwicklungsangemessen sein kann, und destruktiver Parentifizierung, bei der chronische Überforderung und schädliche Rollenverschiebungen bestehen.
Entstehungsbedingungen
Parentifizierung tritt häufig in Familiensystemen auf, die durch psychische Erkrankungen, Suchterkrankungen, Trennungs- und Konfliktdynamiken, chronische Belastungen oder ökonomischen Stress geprägt sind. Unklare Generationsgrenzen und unzureichende elterliche Fürsorge begünstigen die dauerhafte Rollenverschiebung. Entscheidend ist nicht allein die Menge der übernommenen Aufgaben, sondern ihre Funktion als Kompensation für elterliche Defizite.
Folgen
Kurzfristig können parentifizierte Kinder durch Verantwortungsübernahme und soziale Sensibilität Kompetenzen entwickeln, die von außen als Reife erscheinen. Langfristig besteht jedoch ein erhöhtes Risiko für emotionale Erschöpfung, Beziehungsprobleme, Schwierigkeiten in der Selbstabgrenzung, Perfektionismus sowie eine erhöhte Vulnerabilität für affektive oder angstbezogene Störungen. Die Belastung entsteht durch die chronische, systemstabilisierende Funktion der Rollenübernahme, nicht durch einzelne Aufgaben.
Diagnostik
Die diagnostische Einschätzung erfolgt im Rahmen der Anamnese und Familienanalyse. Typisch sind ausgeprägte Verantwortungsgefühle, Loyalitätskonflikte, Rollenumkehr und das Zurückstellen eigener Bedürfnisse. Forschungsinstrumente wie das "Parentification Inventory“ dienen der quantitativen Erfassung, werden in der klinischen Praxis jedoch selten routinemäßig eingesetzt.
Therapie
Therapeutische Ansätze richten sich auf die Wiederherstellung klarer Generationsgrenzen, die Stärkung kindlicher und erwachsener Selbstanteile und die Bearbeitung von Loyalitätsmustern. In der systemischen Therapie stehen Familiendynamiken und intergenerationale Verpflichtungen im Vordergrund, während in psychodynamischen Verfahren häufig internalisierte Rollen, Überforderungserlebnisse und Beziehungsschemata bearbeitet werden. Bei erwachsenen Betroffenen liegt der Schwerpunkt auf Selbstfürsorge, Abgrenzungsfähigkeit und korrigierenden Beziehungserfahrungen.
Literatur
- Jurkovic, G. J. (1997). Lost childhoods: The plight of the parentified child. Brunner/Mazel. Abstract verfügbar unter APA PsycNET
- Boszormenyi-Nagy, I., & Spark, G. M. (1973). Invisible loyalties: Reciprocity in intergenerational family therapy. Harper & Row. Volltext verfügbar unter Internet Archive
- Dariotis, J. K., Chen, F. R., Park, Y. R., Nowak, M. K., French, K. M., & Codamon, A. M. (2023). Parentification Vulnerability, Reactivity, Resilience, and Thriving: A Mixed Methods Systematic Literature Review. International journal of environmental research and public health, 20(13), 6197. https://doi.org/10.3390/ijerph20136197
- Hooper, L. M., Doehler, K., Wallace, S. A., & Hannah, N. J. (2011). The Parentification Inventory: Development, validation, and cross-validation. The Family Journal, 19(3), 247–254. Verfügbar unter ResearchGate