Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
Synonyme: Gutartiger anfallsweiser Lagerungsschwindel, Peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel, BPLS, PPLS, BPPV, Cupulolithiasis, Kupulolithiasis, Canalolithiasis
Englisch: benign paroxysmal positional vertigo(BPPV)
Definition
Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel, kurz BPLS, ist eine Innenohrerkrankung. Er ist definiert als ein episodischer, lageabhängiger Schwindel mit kurzen, rezidivierenden Drehschwindelattacken, die durch einen Lagerungswechsel des Kopfes auslösbar sind. Der BPLS ist eine der häufigsten Ursachen des vestibulären Schwindels beim Menschen. Er kann mit oder ohne Übelkeit und Oszillopsien auftreten, zeigt jedoch keine Hirnstammzeichen.
- ICD10-Code: H81.1
Hintergrund
Erstmals wurde der BPPV etwa 1920 vom österreichischen HNO-Arzt und Nobelpreisträger Robert Bárány beschrieben.[1]
Epidemiologie
Die jährliche Inzidenz wird auf ca. 60 Fälle pro 100.000 Einwohner geschätzt,[2] die Lebenszeitprävalenz wird mit 2,4 % angegeben.[3] Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer, was vermutlich auf den häufiger auftretenden Risikofaktor Osteoporose zurückzuführen ist. Der Altersgipfel liegt in der sechsten Lebensdekade.[4]
Ätiologie
Die meisten Fälle des BPLS sind idiopathisch, ein Teil der Patienten weist jedoch einen oder mehrere der folgenden Risikofaktoren auf:[5][6][7]
- Kopf-Hals-Trauma, Schleudertrauma
- längere Bettruhe
- Operationen in Allgemeinanästhesie
- vaskuläre Risikofaktoren wie Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie und Hyperlipidämie
- vorangegangene Neuropathia vestibularis (innerhalb von Wochen bis Monaten)
- Morbus Menière
- Migräne: BPLS-Patienten haben eine etwa 3-fach erhöhte Prävalenz von Migräne
Das Vorhandensein der meisten obenstehenden Risikofaktoren geht auch mit einer erhöhten Rezidivwahrscheinlichkeit für weitere BPLS-Episoden einher.[7]
Pathogenese
Pathogenetisch liegt dem BPLS höchstwahrscheinlich eine Ablösung der Otolithen von der Macula utriculi des Innenohrs zugrunde. Diese Otolithen werden anschließend in die Bogengänge verschleppt, wo sie sich zu Konglomeraten zusammenlagern. Diese können die Erregung der Cupula auf zwei Weisen beeinflussen:[8]
- Canalolithiasis: Hier gelangen Otolithen in das Lumen eines Bogenganges. Bei Kopfbewegungen sinken diese Partikel zum jeweils tiefsten Punkt des Bogenganges, wodurch eine Endolymphströmung entsteht, die einen Sog auf die Cupula ausübt. Dieser Endolymphstrom ist dann am stärksten, wenn der betroffene Bogengang in der Ebene des Schwerkraftvektors liegt. Da die Otolithen einige Sekunden benötigen, um beschleunigt zu werden, hat die Cupulareizung eine gewisse zeitliche Latenz. Sind die Partikel an den tiefsten Punkt des Bogengangs gesunken, was in der Regel nach weniger als 1 Minute der Fall ist, entfällt der Reiz. Das Canalolithiasis-Modell wurde 1990 durch die intraoperative Beobachtung frei flottierender Partikel in den Bogengängen durch Parnes und McClure gestützt.[9]
- Cupulolithiasis: Seltenerer Mechanismus. Hier haften die Otolithen der Cupula direkt an. Auch dies führt zu einem schwerkraftabhängigen Zug an der Cupula, allerdings mit kürzerer Latenzzeit und längerer Dauer.
Es wird angenommen, dass es bei wiederholter Bewegung zum Zerfall der Otholitenkonglomerate in den Bogengängen kommt. Daher lässt der Cupulareiz bei erneuter Lagerung nach (Habituation). Nach einigen Stunden bilden die Partikel meist jedoch erneut Konglomerate.[8]
Betroffen ist in 80 bis 90 % der Fälle der posteriore, in 5 bis 15 % der Fälle der horizontale Bogengang. Der BPLS des anterioren Bogengangs ist eine Rarität. Die rechte Seite ist häufiger betroffen als die linke (Verhältnis 1,4:1).
Klinik
Das Leitsymptom des benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel sind kurze (unter 1 min) und meist äußerst heftige Drehschwindelattacken, die oft von Übelkeit und Erbrechen begleitet werden. Durch einen Nystagmus kann es zu Oszillopsien kommen. Ausgelöst werden diese Attacken durch Kopfbewegungen, typisch sind z.B. das Hinlegen oder das Drehen auf die Seite im Liegen.
Die Beschwerden haben eine kurze Latenz von wenigen Sekunden (bei Canalolithiasis ca. 10 bis 20 s, bei Cupulolithiasis etwas weniger) sowie einen Crescendo-Decrescendo-Charakter.
Eine kochleäre Symptomatik mit Hörminderung oder Tinnitus tritt nicht auf, was bei der Differentialdiagnose weiterhilft.
Der BPLS remittiert innerhalb von Tagen bis Wochen spontan, mit einer mittleren Remissionsdauer von ca. 40 Tagen (posteriorer Bogengang) bzw. 16 Tagen (horizontaler Bogengang).[10] Nach der Remission kann einige Tage lang ein leichter Schwankschwindel (Residualschwindel) auftreten. Bei etwa 50 % der Patienten kommt es im Verlauf zu Rezidiven.
Diagnostik
Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel ist eine klinische Diagnose. Die apparative Diagnostik dient differentialdiagnostischen Zwecken. Zur Diagnosestellung dienen Lagerungsmanöver, bei denen eine Bewegung in der Ebene eines Bogengangs vollzogen wird, was einen spezifischen Nystagmus (sowie Schwindel) provoziert.
Diagnosekriterien
Bei folgenden Kriterien kann eine Diagnose eines BPLS des hinteren Bogengangs zuverlässig gestellt werden:
- Zeitliche Latenz bis zum Auftreten des Nystagmus (ca. 5 s bei Cupulolithiasis, 10 bis 20 s bei Canalolithiasis)
- Dauer weniger als 1 Minute (bei Cupulolithiasis evtl. etwas länger)
- Crescendo-Decrescendo-Zeitverlauf
- Rotatorisch-vertikaler Nystagmus: die Hauptkomponente ist rotatorisch, jedoch ist auch eine vertikale Komponente möglich.
- Nystagmusumkehr: nachdem der Patient sich wieder aufgerichtet hat, kann ein transitorischer, dezenterer Nystagmus in die entgegengesetzte Richtung auftreten.
- Habituation: Bei Wiederholung des Lagerungsmanövers nimmt die Intensität von Nystagmus und Schwindel ab.
Lagerungsprüfungen
Folgende Lagerungsprüfungen sind möglich:
- Lagerungsprüfung nach Hallpike-Dix: Sie prüft die hinteren Bogengänge. Provoziert werden dabei:
- bei ampullennahen Otolithen oder Cupulolithiasis (Regelfall): Rotatorischer Nystagmus zum untenliegenden, betroffenen Ohr mit vertikaler Komponente nach oben, Nystagmusumkehr beim Wiederaufrichten
- bei ampullenfernen Otolithen (sehr selten): Rotatorischer Nystagmus weg vom betroffenen Ohr mit rotatorischer Komponente nach unten, Nystagmusumkehr beim Wiederaufrichten
- Diagnostisches Semont-Manöver: Zur Testung des rechten hinteren Bogengangs wird in sitzender Position der Kopf des Patienten um 45° nach links gedreht. Es folgt eine rasche Umlagerung auf die rechte Seite, sodass das zu untersuchende Ohr unten liegt und der Blick schräg nach oben geht. Die Befunde ähneln denen der Lagerungsprüfung nach Hallpike-Dix.
- Supine-Head-Roll-Test: Er prüft die horizontalen Bogengänge. Provoziert werden dabei:
- bei ampullenfernen Otolithen (Regelfall): geotroper (d.h. zum Boden hin schlagender) Nystagmus beidseits, meist ohne Latenz; betroffen ist diejenige Seite mit dem stärker ausgeprägten Nystagmus
- bei ampullennahen Otolithen oder Cupulolithiasis (selten): apogeotroper (d.h. zum Himmel hin schlagender) Nystagmus beidseits; betroffen ist diejenige Seite mit dem schwächer ausgeprägten Nystagmus.
Aufgrund der bei den Lagerungsproben auftretenden Übelkeit sollte man präventiv einen Spuckbeutel bereitstellen.
Ausschluss zentraler Ursachen
Generell sollte man bei Schwindel immer eine zentrale Ursache ausschließen. Zu diesem Zweck empfiehlt die Leitlinie für vestibuläre Funktionsstörungen verschiedene Untersuchungen:[11]
- HINTS-Protokoll (kurz für Head Impulse Test, Nystagmus, Test of Skew deviation)
- Kopfimpulstest (KIT) als Prüfung auf ein Defizit des vestibulookulären Reflexes (VOR): Ein unauffälliger KIT ist ein Hinweis auf eine zentrale Genese.
- Untersuchung auf Nystagmus: Ein alternierender Blickrichtungsnystagmus ist ein Hinweis auf eine zentrale Genese.
- Alternierender Covertest: Eine eventuelle Skew Deviation ist ein Hinweis auf eine zentrale Genese.
- Romberg-Test
Differentialdiagnosen
Mögliche Differenzialdiagnosen sind:
- Neuropathia vestibularis: eher Dauerdrehschwindel, Fallneigung zur kranken Seite, Spontannystagmus zur gesunden Seite
- Morbus Menière: teils begleitende Hörstörung, Ohrendruck, Spontannystagmus mit Wechsel von Reiz- zu Ausfallnystagmus, Anfallsdauer Minuten bis Stunden
- Zentraler Schwindel: Kleinhirnläsionen oder Läsionen der Vestibulariskernverbindungen können klinisch einen BPLS imitieren. In den Lagerungsproben fehlt jedoch oft die zeitliche Latenz, die Nystagmen sind meist rein vertikal, rein torsionell oder rein horizontal. Meist finden sich verschiedene Nystagmusphänomene bei verschiedenen Bewegungen. Begleitend können weitere Hirnstamm- oder Kleinhirnsymptome (z.B. Ataxie, Blickfolgenystagmus, Dysarthrie) vorliegen.
- Vestibuläre Migräne: eventuell, aber nicht zwingend begleitender Kopfschmerz (oft okzipital); Nystagmen ähnlich denen bei zentralem Schwindel oder Spontannystagmus
- Vestibularisparoxysmie: eventuell begleitende Hörstörungen, häufig Schwankschwindel, teils Provozierbarkeit durch Hyperventilation
Bei jedem Verdacht auf eine zentrale Genese des Schwindels sollte eine cMRT mit Gefäßdarstellung erfolgen.
Therapie
Das Therapieprinzip besteht darin, durch Lagerungsübungen die Konglomerate aus verschleppten Otolithen wieder zurück in den Utriculus zu befördern.
Für den posterioren Bogengang dienen u.a. folgende Lagerungsmethoden:
Für den horizontalen Bogengang können angewendet werden:
- Gufoni-Manöver
- Barbecue-Manöver
- Vannucchi-Giannoni-Manöver (Seitlagerung auf nicht betroffenes Ohr für einige Stunden)
Die genannten Manöver haben bereits bei erstmaliger Durchführung eine hohe Effektivität (50 bis 90 %, je nach Manöver). Das Epley- und das Semon-Manöver sind gleichwertig. Sollte die ärztliche Durchführung keinen Erfolg bringen, so kann der Patient zur eigenständigen, mehrfach täglichen Durchführung der Übungen angeleitet werden, eventuell auch durch einen Physiotherapeuten.
Da die Manöver oft von Übelkeit oder Angst begleitet sind, kann eine Prämedikation mit Antivertiginosa (z.B. Diphenhydramin) oder Anxiolytika sinnvoll sein.[12] Eine Dauertherapie mit Antivertiginosa behebt die Erkrankung nicht kausal und sollte unterlassen werden.
Der Patient ist über die Möglichkeit eines vorübergehenden Residualschwindels (s.o.) nach erfolgreichem Manöver aufzuklären.
Literatur
- Thömke, F.: Benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel. HNO 69, 843–860 (2021). Hier empfiehlt sich vor allem die Abb. 3 zum Verständnis der Genese von verschiedenen Nystagmusformen.
Einzelnachweise
- ↑ Baloh, Robert W.: "Bárány’s Test Battery and the First Description of Benign Paroxysmal Positional Vertigo", in: "Vertigo: Five Physician Scientists and the Quest for a Cure" Oxford Academic, New York, 2016. Aufgerufen am 25 Sept. 2023.
- ↑ Froehling D, Silverstein M, Mohr DM, et al.: "Benign positional vertigo: incidence and prognosis in a population based study in Olmstead County, Minnesota" Mayo Clinic Proceedings, 1991.
- ↑ von Brevern, et al.: "Epidemiology of benign paroxysmal positional vertigo: a population based study". Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry, 2007
- ↑ Hanley K, O'Dowd T, Considine N.: "A systematic review of vertigo in primary care" British Journal Of General Practice, 2001.
- ↑ Strupp M, Dieterich M, Brandt T.: "The treatment and natural course of peripheral and central vertigo" Deutsches Ärzteblatt International, 2013.
- ↑ Ishiyama A, Jacobson KM, Baloh RW.: "Migraine and benign positional vertigo" Annals of Otology, Rhinology and Laryngology, 2000.
- ↑ 7,0 7,1 Sfakianaki I, Binos P, Karkos P, Dimas GG, Psillas G.: "Risk Factors for Recurrence of Benign Paroxysmal Positional Vertigo. A Clinical Review." Journal of Clinical Medicine, 2021.
- ↑ 8,0 8,1 Thömke, F.: "Benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel" HNO 69, 843–860 (2021).
- ↑ Parnes, McClure: "Free-Floating endolymph particles: A new operative finding during posterior semicircular canal occlusion" Eastern Section Triological Paper, 1991.
- ↑ Imai et al.: "Natural course of the remission of vertigo in patients with benign paroxysmal positional vertigo" Neurology, 2005.
- ↑ S2k-Leitlinie – Vestibuläre Funktionsstörungen, AWMF-Register-Nr. 017/078, Stand März 2021
- ↑ Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V.: "S2-Leitlinie Vestibuläre Funktionsstörungen ", Stand 2021
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