Abduzensparese
Englisch: sixth nerve palsy, abducens nerve palsy
Definition
Als Abduzensparese bezeichnet man die Lähmung des Nervus abducens (VI. Hirnnerv), der für die Augenbewegung nach außen zuständig ist.
- ICD10-Code: H49.2
Epidemiologie
Die jährliche Inzidenz der Abduzensparese wird mit 4,6 bis 11,3 Fällen pro 100.000 Einwohner beziffert.[1][2] Damit gilt sie als häufigste Parese der motorischen Augennerven.[3] Der Altersgipfel liegt um das 70. Lebensjahr.[1][2] Männer sind entweder gleichermaßen oder etwas häufiger betroffen als Frauen.[1][2]
Ätiologie
Mögliche Ursachen einer Abduzensparese sind:[3][4][5][6][7]
- Läsionen von Nucleus nervi abducentis oder intrapontinem Nervenverlauf
- Läsionen im subarachnoidalen Nervenverlauf
- intrakranielle Druckerhöhung mit Kompression des Nervens an der Clivuskante, z.B. bei intrakranieller Blutung oder bei idiopathischer intrakranieller Hypertension
- Liquorunterdrucksyndrom
- Subarachnoidalblutung
- Aneurysmen der hinteren Schädelgrube, z.B. der Arteria vertebralis oder der AICA, sowie deren Dissektion oder Ruptur
- Tumorkompression
- Radikulitis bei Borreliose
- basale Meningitis, z.B. bei Neurotuberkulose, Kryptokokkose, meningealer Neurosyphilis, Neurosarkoidose
- Schädelbasisfrakturen, insbesondere bei Involvierung des Felsenbeins
- Otitis media und/oder Mastoiditis, auch als Teil des Gradenigo-Syndroms
- Läsionen im Sinus cavernosus, durch den der Nerv mittig hindurchtritt; auch als Teil eines Sinus-cavernosus-Syndroms
- Sinusvenenthrombose
- Carotis-Sinus-cavernosus-Fistel
- Tumorkompression bzw. -infiltration, z.B. bei einwachsenden Nasopharynx-Karzinomen oder Kraniopharyngeomen
- Aneurysmen oder Dissektionen der Arteria carotis interna
- Läsionen nahe oder innerhalb der Orbita, auch als Teil eines Fissura-orbitalis-superior- oder Orbitaspitzensyndroms
- Orbitafrakturen
- Infektionen der Orbita (z.B. Aspergillose)
- Tumorkompression
- Tolosa-Hunt-Syndrom
Bis zu 30 % der Fälle treten idiopathisch auf.[3][4]
Bei Läsionen innerhalb des Pons kann eine Abduzensparese auch bilateral auftreten und ist meist mit Lähmungen weiterer Hirnnerven vergesellschaftet.
Pathogenese
Die horizontale Außenbewegung (Abduktion) des Bulbus erfolgt normalerweise durch den Musculus rectus lateralis, der vom Nervus abducens versorgt wird. Fällt dieser Nerv aus, bleibt das betroffene Auge beim Blick zur Seite im Vergleich zum anderen Auge (auf der nicht gelähmten Seite) zurück.
Bei nukleären Abduzensparesen kann zusätzlich die über den Fasciculus longitudinalis medialis vermittelte konjugierte Adduktion des kontralateralen Auges entfallen, entsprechend einer horizontalen Blickparese.[3][8]
Klinik
Es kommt zu horizontalen, ungekreuzten Doppelbildern, deren Abstand beim Blick zur Seite der Lähmung sowie beim Blick in die Ferne (Aufhebung der Konvergenzreaktion) zunimmt.[3] Kompensatorisch dreht der Patient häufig den Kopf zur geschädigten Seite. Durch die Drehung wird die normalerweise durch den Musculus rectus lateralis vermittelte Abduktion des Bulbus oculi kompensiert, was die Doppelbilder reduziert.[3]
Bei nukleären Paresen kann sich das klinische Bild einer horizontalen Blickparese zeigen, bei der beide Augen nicht mehr zur erkrankten Seite bewegt werden können.[3][8]
Äußerlich kann ein Strabismus mit Esotropie und Abduktionsschwäche auf dem betroffenen Auge auffallen.
Diagnostik
Therapie
Die Therapie richtet sich nach der auslösenden Ursache. Häufig ist die Lähmung nur zeitweise und bessert sich von selbst. Tritt keine Besserung ein, können in manchen Fällen Prismengläser die Doppelbilder reduzieren.
Eine weitere Option ist die Injektion von Botulinumtoxin in den ipsilateralen Musculus rectus medialis, welcher der Gegenspieler des Musculus rectus lateralis ist. Beim Versagen dieser Maßnahmen ist meist eine operative Korrektur des Schielens notwendig.
Literatur
- Hopf et al., Erkrankungen der Hirnnerven, 1. Auflage, 2006, Thieme
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Jung et al., The incidence and etiology of sixth cranial nerve palsy in Koreans: A 10-year nationwide cohort study, Scientific Reports, 2019.
- ↑ 2,0 2,1 2,2 Patel et al., Incidence, associations, and evaluation of sixth nerve palsy using a population-based method, Ophthalmology, 2004.
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 Graham et al., Abducens Nerve Palsy, StatPearls, 2023.
- ↑ 4,0 4,1 Elder et al., Isolated Abducens Nerve Palsy: Update on Evaluation and Diagnosis, Current Neurology and Neuroscience Reports, 2016.
- ↑ Kung, Stavern, Isolated Ocular Motor Nerve Palsies, Seminars in Neurology, 2015.
- ↑ Jeon et al., Dissecting Aneurysm of Vertebral Artery Manifestating as Contralateral Abducens Nerve Palsy, Journal of Korean Neurosurgical Society, 2013.
- ↑ Walter et al., Acute Isolated Sixth Nerve Palsy Caused by Unruptured Intradural Saccular Aneurysm, Journal of Neuroophthalmology, 2019.
- ↑ 8,0 8,1 Mattle, Fischer, Störungen der Augenmotorik und Pupillenmotorik. In: Mattle, Fischer (Hrsg.), Kurzlehrbuch Neurologie, 5. Auflage, Thieme Verlag Stuttgart, 2021.