Stottern
Synonyme: Balbuties, Stammeln
Englisch: stuttering, stammering
Definition
Stottern ist eine neurologisch bedingte Sprechstörung, die durch unfreiwillige Blockierungen, Verlängerung von Lauten und Wiederholung von Lauten charakterisiert ist. Die Unflüssigkeiten werden vom Stotternden wahrgenommen und antizipiert. Der Stotternde weiß genau, was er sagen möchte, aber er ist in diesem Moment nicht in der Lage, dieses eine Wort flüssig zu sprechen, obwohl er problemlos ein anderes Wort sprechen oder dieses Wort zu einem anderen Zeitpunkt sagen könnte.
ICD-Codes
- ICD-10: F98.5
- ICD-11: 6A00.0
Epidemiologie
Die Inzidenz beträgt je nach Studie ca. 5 bis 10% in der Altersgruppe bis zum fünften Lebensjahr. Der Altersgipfel liegt im Alter zwischen zwei und sieben Jahren. Männer sind etwa dreimal häufiger betroffen als Frauen. Ab dem 18. Lebensjahr kippt das Geschlechterverhältnis weiter zu Ungunsten der Männer bis hin zu 5:1. Insgesamt tritt die Sprechstörung etwa bei einem Prozent der Bevölkerung auf.
Abgrenzung
Stottern ist von physiologischen Sprechunflüssigkeiten zu unterscheiden. Beim Erreichen bestimmter Meilensteine im Spracherwerb kann es vorkommen, dass Kinder längere Satzteile wiederholen. Dies ist jedoch eher Ausdruck eines Pausenfüllers, während das Kind z.B. den Einbau einer neu erworbenen grammatikalischen Form prüft. Die Begriffe "Entwicklungsstottern" bzw. "physiologisches Stottern" sind veraltet und zu vermeiden.
Situationsbedingte Unflüssigkeiten treten auch im höheren Alter insbesondere unter emotionaler Anspannung auf ("Lampenfieber", Nervosität, Angst), sind jedoch nicht mit tatsächlichem Stottern gleichzusetzen. Auch ein Nicht-Stotternder ist bis zu 20% seiner Redezeit unflüssig, zeigt dabei allerdings nicht die charakteristische Stottersymptomatik, weswegen die Qualität der Symptome entscheidend für die richtige Diagnosestellung ist.
Bei Nicht-Stotternden beträgt der Anteil der unflüssig gesprochenen Silben weniger als 3% ("3%-Regel").
Einteilung
Es werden nach Kiese-Himmel (2017) ätiologisch vier Arten des Stotterns unterschieden:
- Originäres (neurogenes, nicht-syndromales) Stottern: dies ist das klassische "kindliche" oder "angeborene" Stottern und die häufigste Form. Es tritt weitgehend idiopathisch auf und wird auf eine genetische Veranlagung zurückgeführt.
- Originäres neurogenes syndromales Stottern: kann im Rahmen eines Syndroms vorkommen. Ein klassisches Beispiel ist die Trisomie 21.
- Erworbenes neurogenes Stottern: kann sich in jedem Alter im Rahmen einer Hirnschädigung/neurologischen Grunderkrankung manifestieren. Es können zusätzlich weitere Kommunikationsstörungen bestehen.
- Psychogenes Stottern: manifestiert sich i.d.R. erst im Erwachsenenalter durch ein psychisches Trauma bzw. eine psychiatrische Grunderkrankung.
- Substanzbedingtes Stottern (Sonderform, äußerst selten): kann durch Alkoholkonsum oder als medikamentöse Nebenwirkung (z.B. durch Psychopharmaka) entstehen. Diese Form des Stotterns wird von der S3-Leitlinie nicht als tatsächliches Stottern geführt, sondern lediglich als Sonderfall erwähnt.
Die symptomatische Einteilung in tonisches und klonisches Stottern ist obsolet, wird aber teilsweise noch in der Literatur verwendet.
Ätiologie
Stottern ist eine multifaktoriell bedingte Sprechstörung, die durch das Zusammenspiel polygenetischer, psycholinguistischer und psychosozialer Faktoren bedingt sein kann. So konnte man zeigen, dass stotternde Erwachsene zu 70-80% stotternde Verwandte haben. Als Auslöser sind mehr als 12 Genloci bekannt. Darüber hinaus zeigte sich nicht nur in der Genese des Stotterns eine Erblichkeit, sondern auch bei der Wahrscheinlichkeit einer Remission. Weiterhin spielen nicht näher bekannte Umwelteinflüsse eine Rolle, hinsichtlich derer in Zwillingsstudien gezeigt werden konnte, dass es sich nicht um geteilte Umweltfaktoren handelt. Das Klischee, ein zu strenger Erziehungsstil verursache Stottern, konnte damit widerlegt werden.
Pathophysiologie
Die Pathophysiologie des originären neurogenen, nicht-syndromalen Stotterns ist nicht gänzlich geklärt, dennoch gibt es Hinweise auf eine unkoordinierte Signalleitung zwischen den Sprachzentren und funktionell verwandten Rindenfeldern, wodurch die Ansteuerung der einzelnen Artikulatoren im entscheidenden Moment misslingt. Dies konnte mittels Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) festgestellt werden, was auf eine unzureichende Myelinisierung der Assoziationsfasern zwischen sprachverarbeitenden Arealen hindeutet.
Sprecherisch relevante Areale der linken Hemisphäre sind bei stotternden Erwachsenen deutlich schlechter vernetzt als bei Nicht-Stotternden. Mittels Magnetresonanzenzephalographie (MEG) konnte festgestellt werden, dass diese Areale bei Stotternden in der falschen Reihenfolge oder zu spät aktiviert werden. Während die Ansteuerung von Bewegungen weitestgehend ungestört verläuft (grundsätzliche Fähigkeit eines/r jeden Stotternden flüssig zu sprechen), ist es die Bahnung von Bewegungen, die beim Stottern im Kontrast zu anderen neurologischen Bewegungsstörungen beeinträchtigt ist.
Die Vernetzung innerhalb der Areale der rechten Hemisphäre und auch die Vernetzung der Hirnhälften untereinander scheinen unbeeinträchtigt. Letzteres führt dazu, dass Leistungen der rechten Hemisphäre (z.B. Singen) Stotternden als Kompensationsmechanismus dienen können, um spontan ein flüssiges Sprechen zu erlangen. In einfachen Sprechsituationen konnte mittels transkranieller Magnetstimulation (TMS) gezeigt werden, dass die rechte Hirnhälfte bei Stotternden sehr viel mehr am Sprechen beteiligt ist, als bei Flüssigsprechenden.
Nach Kuckenberg und Zückner (2006) entstehen im Symptom selbst Verkrampfungen der Kehlkopfmuskulatur begleitet von antagonistischer Muskelaktivität, was sich mit den Berichten Stotternder deckt, dass sich v.a. die Blocksymptome anfühlten, „als schnüre einem plötzlich der Hals zu“. Dies könnte auch erklären, warum das Symptom meist die Bildung des Silbenkerns verhindert.
Symptome
Die Symptome des Stotterns werden in primäre und sekundäre Symptome unterteilt. Primäre Symptome betreffen die eigentliche Sprechstörung, während sekundäre Symptome die psychische oder körperliche Reaktion auf das Stottern darstellen.
Primäre Symptome
- rasche Wiederholungen von Lauten, Silben oder Wortteilen
- stumme oder hörbare Blockaden
- Lautverlängerungen (Dehnungen)
- wiederholte zwischengeschobene Laute, die länger als zwei Sekunden dauern (Interjektionen)
- Wiederholung einsilbiger Wörter mit kurzen Pausen zwischen den Wiederholungen, bei >1 Wiederholung, zusätzliche Sekundärsymptome und arrhythmische Produktion. Wiederholungen einsilbiger Wörter stellen einen Sonderfall da, da sie auch physiologisch sein können.
- Komplexe Symptome (mehrere der o.g. Symptome in einer Silbe)
Sekundäre Symptome
Sekundäre Symptome haben das Ziel, ein Stotterereignis zu verhindern bzw. zu beenden. Zu ihnen zählen z.B.:
- Vermeidungsverhalten
- Fluchtverhalten
- emotionale Reaktionen (Wut, Scham, Sprechangst)
- auffälliges Sozialverhalten (sozialer Rückzug, kein Blickkontakt)
- auffälliges Sprechverhalten (Flüstern, skandierendes Sprechen, Schweigen)
- sprachlichen Symptome (Vermeiden/Ersetzen bestimmter Wörter, Wortabbrüche, Embolophonien [„äh“, „ähm“])
- auffällige Motorik (Kopfnicken, Augen zukneifen, Mundaufreißen, Stampfen)
- vegetative Symptome (Tachykardie, Tachypnoe, Schwitzen etc.)
Aus einem Sekundärsymptom kann jeder Zeit ein dysfunktionales Coping werden, sollte es durch Zufall tatsächlich mal ein Stotterereignis beendet haben. Betroffene Kinder erleben Angst, Frustration und vermeiden Situationen, in denen sie sprechen müssen. Die psychosoziale Entwicklung kann dadurch gestört und/oder verzögert ablaufen.
Die Schwere der Symptomatik fällt interindividuell sehr unterschiedlich aus. Ein großer Faktor ist die eigene Haltung zum Stottern und der erlernte Umgang mit der Sprechstörung. Je nach situationalem Arousal, kommt es auch intraindividuell zu einer großen Varianz der Symptome.
Für die Entstehung eines einzelnen Stotterereignisses gibt es verschiedene Modellannahmen unterschiedlicher Komplexität. Mit am verbreitetsten ist das 3-Faktoren-Modell nach Packman und Attanasio (2010), das ein neurologisches Defizit als Kern der Sprechstörung annimmt und dieses in einem Umfeld sieht, in dem sich modulierende Faktoren (Erfahrungen, die mit dem Stottern gemacht wurden) mit der physiologischen Erregung und kognitiven Anforderungen die Waage halten. Stört ein Trigger (z.B. ein besonderes sprachliches Merkmal) von außen dieses Gleichgewicht, kommt es zum Symptom.
Verlauf
Das klassische originäre Stottern beginnt in den meisten Fällen bis zum 6. Geburtstag, in seltenen Fällen schon vor dem Kindergartenalter. Nach Pubertätsbeginn gilt ein Stotterbeginn als ausgeschlossen. Mit zunehmender Dauer des Stotterns und höherem Alter bei Erstmanifestation nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Remission ab. Nach der Pubertät ist in den meisten Fällen keine Normalisierung mehr zu erwarten. Eine möglichst frühe logopädische Therapie erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Remission, nicht zuletzt auch dadurch, dass Sprachentwicklungsstörungen ebenfalls einen negativen Einfluss auf eine Remission haben. Auch ein Stotterbeginn vor dem 3. Lebensjahr erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Spontanremission. 70-80% der Kinder, bei denen ein Stottern festgestellt wurde, überwinden dieses.
Diagnostik
Grundlage der Diagnosestellung ist die erfüllte 3%-Regel. In Ausnahmefällen kann auch ein Stottern diagnostiziert werden, wenn weniger als 3% der gesprochenen Silben betroffen sind, aber dafür sekundäre Symptome vorliegen (Yairi u. Ambrose, 1999).
Ein weiteres Kriterium besteht in der Qualität der Symptome, z.B. der Dauer einer Dehnung oder der Anzahl von Wiederholungen einer Silbe/eines Lautes. Die Quantität der Symptome bezieht sich auf die Zahl der betroffenen Silben, ohne dabei die Zahl der Symptome zu beachten.
Neben dem behandlungsbedürftigen Stottern als solches, müssen psychische Reaktionen des Betroffenen und auslösende/aufrechterhaltende Faktoren herausgearbeitet werden.
Therapie
In den meisten Fällen verschwindet Stottern vor dem Erreichen des Erwachsenenalters. Jedoch kann eine gezielte sprachliche Förderung und Therapie des Stotterns die Überwindungsphase verkürzen und Leidensdruck abbauen.
Therapieziele sind z.B.:
- gezielte Elternberatung
- Remission
- Abbau von Sekundärsymptomatik und Vermittlung funktioneller Coping-Strategien
- Enttabuisierung der Sprechstörung, Akzeptanz des Stotterns im eigenen Sprechen und Reduzierung des Leidensdrucks
In der Stottertherapie haben sich mit der Stottermodifikation und dem Fluency-Shaping zwei große Konzepte etabliert, die Bestandteil der logopädischen Ausbildung sind. Mit den Modifikationstechniken können vereinzelte Symptome bearbeitet werden, wenn sie auftreten, während die Techniken des Fluency Shapings dafür gedacht sind, Stotternden, bei denen quasi jedes Wort symptomatisch ist, das Sprechen zu erleichtern.
Das Fluency-Shaping ist darauf ausgelegt, mittels bestimmter Sprechrhythmen/-techniken eine Art künstliche Sprechflüssigkeit herzustellen, womit zwar schnell oberflächliche Erfolge erzielt werden können, ein Transfer in den Alltag jedoch intensiven Übens und hohen kognitiven Aufwands bedarf. Auch in der Stottermodifikation erlernt der/die Stotternde Techniken, die ihm das Sprechen im Alltag erleichtern. Wegweisend bei diesem Konzept sind allerdings im Kontrast zum Fluency-Shaping die Phasen der Desensibilisierung und der Identifikation, in denen der/die PatientIn lernt, konstruktiv mit dem Stottern umzugehen, auch trotz Symptomen im Alltag selbstbewusst zu sprechen und antizipierte Symptome als solche zu erkennen.
Wegen dieser Ergänzung der Konzepte unter einander haben sich v.a. kombinierte Ansätze bewährt. Auch regelmäßige Nachsorgeprogramme oder erneute logopädische Therapien nach erfolgter Primärtherapie bieten sich an, da sie bereits vorhandene Therapieerfolge festigen und im Falle von Rückfällen (Phasen mit mehr Symptomatik) eine Stütze bilden. Dass ein/e Stotternde/r auch nach abgeschlossener Primärtherapie Phasen mit mehr oder schwererer Symptomatik erlebt, ist normal und kann v.a. von der individuellen psychosozialen Situation des/der Betroffenen abhängen.
Bestandteil der Therapie sind neben den rein sprachtherapeutischen Aspekten auch verhaltenstherapeutische Ansätze, durch die der/die Stotternde z.B. lernt, Sprechängste zu überwinden und fremde Menschen im Alltag anzusprechen bzw. mit ihnen sprechen zu können. Geübt werden diese Fertigkeiten in den tatsächlichen Situationen (In-vivo-Training).
Neben der Möglichkeit einer ambulanten Sprechtherapie bestehen auch stationäre Angebote mit mehrwöchigen Intensivkursen.
V.a. im Erwachsenenalter kann eine Symptomfreiheit nicht garantiert bzw. insgesamt nur selten erreicht werden. Heilungsversprechen verbitten sich durch die Unvorhersehbarkeit einer Remission und gelten als Redflag bei der Suche nach geeigneten Therapeuten. Durch individuell abgestimmte Maßnahmen können die Betroffenen allerdings Lebensqualität und Sprechkompetenz zurückgewinnen.
Rechtslage
Stottern ist als Behinderung anerkannt, sodass Betroffenen in der Schule bzw. an der Universität ein Nachteilsausgleich hinsichtlich mündlicher Prüfungen und Mitarbeitsnoten zusteht.
Umgang mit Betroffenen
Als Gesprächspartner eines/einer Stotternden sollte man den Einfluss, den man auf die Gesprächsatmosphäre hat, nicht unterschätzen. Grundsätzlich gilt, dass der/die Betroffene entscheidet, wie viel Raum das Stottern im Gespräch bekommt. Man sollte Stotternde ausreden lassen, auch in dem Sinne, dass man den Betroffenen keine symptombehafteten Wörter vorwegnehmen sollte. Wichtiger ist es, als Zuhörer die Symptome "auszuhalten" und Blickkontakt zu behalten. So wird den Stotternden signalisiert, dass sie sich in einem geschützten Rahmen befinden, in dem das Stottern Platz hat. Gegenteiliges Verhalten kann den Betroffenen signalisieren, dass das Stottern unerwünscht oder hinderlich sei oder abschätzig wirken, was wiederum den Druck auf Stotternde erhöht und die Symptome aggraviert. Auch gut gemeinte Kommentare wie „sprich langsam“, „hol mal Luft“, „probier’s noch mal“ oder „Du kannst es auch aufschreiben“, erhöhen den Druck auf die Betroffenen.
Stotternde sind als Gesprächspartner ernst zunehmen. Entgegen diverser Klischees ist Stottern kein Ausdruck einer Intelligenzminderung, weswegen von einer Vereinfachung des eigenen Sprechens abzusehen ist. Man kann und sollte mit Stotternden reden, wie mit Flüssigsprechenden.
Die Verantwortung für einen konstruktiven Umgang mit dem Stottern liegt nicht gänzlich beim Gesprächspartner. Stotternde lernen in der Therapie, offen mit ihrer Sprechstörung umzugehen (Advertising).